Noch vor 50 Jahren waren mehr als die Hälfte der Weinberge des Bordelais mit weißen Rebsorten bestockt. Heute sind davon nur noch etwa 10 Prozent übrig geblieben – Bordeaux steht heute mehr denn je für weltberühmte Rotweine aus Cabernet und Merlot. Die Weißweine des Anbaugebiets müssen sich aber keinesfalls vor ihren großen roten Brüdern verstecken, im Gegenteil.
Von Frische, Cremigkeit und wollüstiger Süße
Grob unterteilen lässt sich weißer Bordeaux in drei Stile: Zum einen in frische trockene, knackige Spaßweine, zum anderen in ebenfalls trockene, aber cremige, füllige, aromatische Exemplare mit Holzausbau und langer Lagerfähigkeit. Drittens in die edelsüßen Weißweine von Weltruf aus dem Sauternais im südlichen Teil der historischen Region Graves am linken Bordeaux-Ufer. So vielfältig die Stile, so viel Spielraum haben die Winzerinnen und Winzer auch bei der Wahl der Rebsorten.
Hauptakteure bei den weißen Bordeaux sind Sémillon und Sauvignon Blanc, die beide rund 45 Prozent der weißen Rebflächen einnehmen. Erstere ist füllig, geschmeidig und sorgt in den Cuvées (die meisten weißen Bordeaux werden nicht reinsortig abgefüllt) für Körper und Rückgrat. Sauvignon Blanc versorgt die Weine mit knackiger Frische und grasig-exotischen Aromen. Als dritte weiße Hauptrebe kommt Muscadelle hinzu (rund fünf Prozent der weißen Rebfläche des Bordelais), die – obwohl es ihr Name vermuten lässt – nicht Teil der Muskateller-Familie ist. Dennoch bringt auch die Muscadelle den Cuvées einen Touch verspielte Muskat-Aromatik. Zugelassen sind darüber hinaus die Sorten Colombard, Merlot Blanc, Sauvignon Gris und Ugni Blanc. Seit Kurzem eine Besonderheit: Durch den wachsenden Einfluss des Klimawandels dürfen die Winzerinnen und Winzer im Bordelais nun auch die iberische Sorte Albariño (in Portugal Alvarinho) sowie Liliorila (Bordelaiser Neuzüchtung aus dem 1950er-Jahren) anbauen, allerdings nur auf maximal fünf Prozent ihrer Rebflächen – die Cuvées dürfen darüber hinaus höchstens 10 Prozent der dieser Sorten enthalten.
Knackige Entre-Deux-Mers
Einfache, frische Weißweine werden nahezu im gesamten Anbaugebiet gemacht – ihre bekannteste Herkunft ist aber sicherlich die AOC Entre-Deux-Mers in der Landschaft zwischen Garonne und Dordogne. Auch dort wird mittlerweile deutlich mehr Rot- als Weißwein erzeugt, dennoch hat sich mit der AOC Entre-Deux-Mers ein Botschafter der frischen trockenen Weißweinbereitung etabliert – perfekte Begleiter zu den Krustentieren des Atlantiks. Ein Dutzend Huîtres aus dem Bassin d’Arcachon, dazu eine Flasche gut gekühlter Entre-Deux-Mers.
Dabei steht der Landstrich zwischen Garonne und Dordogne mittlerweile nicht nur für einfache sommerliche Spaßweine – immer öfter findet man Weißweine mit Struktur und wirklicher Größe. Hervorragendes Beispiel sind die Weißen von Julien Ferran, der aus seinen jüngeren Sauvignon Blanc Reben den überaus überzeugenden Château Josseme macht, einen Wein mit unverschämter Klasse und aromatischer Power in seinem Preisbereich. Für das Entre Deux Mers mit einer fast frechen, cremig-schmelzigen Mineralik ausgestattet. Sein Topwein Neo Kosmo Nébuleuse stammt aus Graves, vom linken Ufer der Garonne.
Pessac-Léognan – der Weißwein-Olymp
Seit Jahren gilt der Norden der historischen Region Graves als DIE Region, wenn es um trockenen weißen Bordeaux geht. Der Heilige Gral liegt noch mitten im Stadtgebiet: An der Grenze von Talence und Pessac haben Château Haut-Brion und La Mission Haut-Brion ihre Rebflächen, Jahr für Jahr entsteht auf den Schwesterweingütern himmlischer und sündhaft teurer weißer Bordeaux – für Normalsterbliche unbezahlbar und in vielen Jahren längst nicht in eigenen Sphären schwimmend, denn nur wenige Kilometer weiter südlich bekommt man ähnlich grandiose Weißweine zum Toptarif. Traditionsgüter wie Pape-Clément, Domaine de Chevalier, Fieuzal und insbesondere Smith Haut Lafitte machen vor, wie grandios Weißwein aus der Appellation Pessac-Léognan sein kann. Ohne Zweifel gehören die Weißen aus der kleinen AOC in vielen Jahren mit ihrer einzigartigen Balance aus Verspieltheit, Cremigkeit und Opulenz zu den besten Weißweinen der Welt. Lorbeeren, denen mittlerweile auch viele der absoluten Ikonen des linken Ufers nacheifern: Ob Château Margaux, Mouton Rothschild oder Cos d’Estournel – alle bereiten extrem feine trockene Weißweine von grandioser Klasse. Im Rausch der Sterne immer ein großartiger Geheimtipp: Der feine Weißwein von Château du Retout am Rande der Appellation Margaux mit seiner gleichermaßen ungewöhnlichen wie genialen Cuvée aus Gros Manseng, Sauvignon Gris, Mondeuse Blanche und Savagnin.
Zuckerdiamanten aus dem Sauternais
Den letzten großen Weißwein-Spot im Bordelais findet man im südlichen Abschnitt der Region Graves – hier haben einige der besten Süßweine der Welt ihre Heimat. In Sauternes und Barsac entstehen aus den typischen weißen Sorten des Bordelais echte Zuckerdiamanten, unglaublich süße Leckerlis, Weine für ein unendliches Leben, denn durch ihren extrem hohen Zuckergehalt sind sie quasi unkaputtbar. In der Jugend verspielt, mit frischer exotischer Frucht und aufregender Spannung, im Alter ein nicht enden wollender Bach aus dunklem Honig, Gewürzen und getrockneten Früchten.
Weißer Bordeaux ist vor allem eines: enorm vielfältig. Und dabei laufen viele Blancs noch immer vollkommen unter dem Radar. Ein Jammer, denn weißer Bordeaux ist sexy, verspielt und enorm einnehmend, egal ob knackig-frisch, cremig-rund oder schmelzig-süß. Sich einmal durch die Palette der weißen Bordeaux trinken – ein Muss für jedes Wein-Trüffelschwein!