Dass die Kanaren ein ganz eigenes Fleckchen Erde sind, wird bereits klar, wenn man die Inseln mit dem Flugzeug überquert: Dunkle Aschefelder wechseln sich ab mit kleinen Ortschaften und teils dichten Wäldern. Grün und schwarz sind die Hauptfarben der Natur auf den Kanaren. Den Höhepunkt der Kargheit erlebt man auf Fuerteventura, wo sich fast schon wüstenähnliche Verhältnisse offenbaren. Es ist die einzige Insel der Kanaren, auf der kein nennenswerter Weinbau betrieben wird. Ganz anders das Bild bei den Nachbarn im Westen: Seit Jahrhunderten werden dort Reben auf den unwegsamen Vulkanhängen kultiviert.
Insbesondere La Palma, »La Isla Bonita«, war lange Zeit die Heimat der gefragtesten Süßweine der Welt. Als die spanischen Eroberer im 15. Jahrhundert Malvasia-Reben auf die Kanaren brachten, begann ein sagenhafter Aufstieg – am britischen Königshof hatten die süßen Weine, die einfach »canary sack« genannt wurden, für lange Zeit einen festen Platz in den royalen Weinkellern. Das änderte sich, als das Empire ab dem Ende des 17. Jahrhundert seine Handelsbeziehungen zu Portugal ausweitete – von nun an bevorzugte man in den aristokratischen Kreisen den Likörwein von der Insel Madeira. Eine lange Krisenzeit folgte, die 1850 in der Ausbreitung des Echten Mehltaus gipfelte. Die Reblaus fand in den Vulkansandböden der Inseln Ende des 19. Jahrhunderts hingegen keine Heimat – zu karg und trocken sind sie. Folglich gibt es auf den Kanaren bis heute einen riesigen Bestand an wurzelechten Rebstöcken, die teilweise bis zu 250 Jahre alt sind. Und auch an der Produktion von fabelhaften Süßweinen hat man auf den Kanaren festgehalten – wenn auch in ganz kleinem Stil.
Nach den Krisenjahren und dem generellen Desinteresse der Kundschaft fristeten die Inseln über Jahrzehnte hinweg ein Schattendasein in der europäischen Weinlandschaft. Während andere spanische Regionen den Aufstieg in die Riege der besten Anbaugebiete der Alten Welt schafften, versanken die Kanaren allmählich in ihrem eigenen dunklen Vulkanstaub. Erst in den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Inseln wie ein Phönix aus der Asche auferstanden, als immer mehr Weinfreaks das Potenzial der kanarischen Weine wiederentdeckten. Aber auch heute noch sind die Vulkaninseln im Atlantik ein grandioser Geheimtipp – vor allem für Liebhaber rasiermesserscharfer Terroirweine.
Im Grunde sind die Kanaren nichts anderes als ein Schlaraffenland für Terroir-Puristen. Sechs Inseln, sechs verschiedene Mikroklimata, sechs verschiedene Persönlichkeiten, ein gemeinsamer Nenner: autochthone Sorten auf kargen Vulkanböden im subtropischen Kanaren-Klima. Und dennoch fallen die Weine in jeder der 11 D.O.s der Kanaren ein wenig anders aus, alle haben sie einen eigenen Charakter. Lanzarote, die östlichste Insel der Kanaren, ist deutlicher vom heißen, trockenen Klima des afrikanischen Kontinents geprägt als etwa La Palma, El Hierro oder La Gomera im Westen des Archipels, wo der Atlantik etwas mehr Einfluss nimmt. Teneriffa hat aufgrund seiner Größe nicht nur die meisten Weinberge, sondern auch die vielfältigsten Bedingungen zu bieten. Sie ist auch deshalb die einzige kanarische Insel mit gleich fünf geschützten Herkünften. Die restlichen Weinbau treibenden Inseln umfassen jeweils nur eine einzige »Denominación de Origen« mit ihrem eigenen Namen (z. B. »D.O. La Gomera«). Dazu kommt eine übergeordnete Herkunftsbezeichnung »D.O. Vinos de Canarias«. Auf 9.000 der insgesamt 14.000 Hektar Reben der Kanaren können D.O.-Weine produziert werden.
Neben ihrer Lage vor der afrikanischen Küste haben auf den Kanaren die großen Höhenunterschiede mit gleich mehreren vertikalen Klimazonen einen zentralen Einfluss auf den Weinbau. Die Weingärten der Inseln ziehen sich von den heißen Flachlagen an der Küste bis in die kühlen Hochlagen der Vulkanberge. Steile Weingärten auf über 1.000 Metern Höhe sind vor allem auf La Palma und Teneriffa keine Seltenheit. Auf 1.700 Metern findet man gar die höchstgelegenen Weinberge Spaniens. Klar, dass die Weine, die dort oben wachsen, ganz anders ausfallen als ihre Pendants von der Küste.
Je nach Höhe und Exposition haben sich daher auch die verschiedensten Erziehungssysteme auf den Inseln etabliert. In den kargen Vulkanasche-Weingärten am Meer winden sich die Reben oft wie Schlangen in kleinen Kratern über den tiefschwarzen Untergrund. Diese arbeitsintensive »Kriecherziehung« soll der teils starken Atlantikbrise möglichst wenig Angriffsfläche bieten. Die charakteristischen Steinmäuerchen, wie man sie beispielweise auf Lanzarote häufig findet, sollen die Reben zusätzlich schützen.
In den Höhenlagen La Palmas findet man in den steilen Hanglagen, die teilweise wie Amphitheater aussehen, oft Kelchreben. Zusammen mit den dunklen Böden erinnert das fast ein wenig an die schroffen Steilhänge der Nordrhône. Auf Teneriffa hat sich vor allem in der nördlichen D.O. Valle de la Orotava die »Trenzado«-Erziehung etabliert, bei der das mehrjährige Rebholz zu einem dicken Strang gewickelt wird. Suertes del Marques, einer der Shootingstars der kanarischen Weinszene, arbeitet viel mit dieser ungewöhnlichen Form der Rebenerziehung.
Der dritte wichtige Trumpf in der Hinterhand der Kanaren sind die zahlreichen autochthonen Rebsorten, die man teilweise nur auf den Vulkaninseln vor der afrikanischen Küste findet. Listan Blanco ist neben Malvasia die wichtigste weiße Sorte, daneben findet man in den Weingärten der Kanaren auch Bernejuela, Gual, Vijariego Blanco, Albillo Criollo oder Verdello. Bei den roten Sorten liegt Listán Negro vorne, aber auch Negramoll, Castellana Negra, Listán Prieto oder Vijariego Negro stehen vereinzelt in den Weinbergen. Insgesamt sollen rund 40 Rebsorten auf den Kanaren zu finden sein.
Alle Sorten bringen natürlich ihre eigenen Typizitäten mit sich, aber sie alle eint ein typischer kanarischer Stil, der irgendwo zwischen fleischiger Fülle und feingliedriger Eleganz schwankt, zwischen ätherisch-mediterranem Charme und salziger Atlantik-Mineralität. Gerade bei den Top-Betrieben erinnern die Rotweine wegen ihrer eleganten hellroten Frucht etwas an französischen Pinot Noir, wobei sie ihre vulkanische Herkunft dabei nie wirklich verstecken. Richtig aufregende und strahlende Weine entstehen bei dieser genialen Kombination aus Vulkanböden, autochthonen Sorten und Atlantikklima. Jonatan García Lima macht das seit 2006 bei Suertes del Marques mit hoch eleganten Roten aus alten autochthonen Sorten vor. Jonatans Weine wachsen im Norden von Teneriffa auf Böden, die auch zum Teil von Lehm durchzogen sind, was den Weinen etwas mehr Wärme und Fülle verleiht.
Ganz anders wird bei Puro Rofe auf Lanzarote gearbeitet. Dort liegt der Fokus im Weinberg klipp und klar auf der dunklen Vulkanasche, was auch der Name des Weinguts andeutet (zu Deutsch: »Pure Asche«). Vor allem die Weißweine der Bodega sind herrliche Spaßmacher – saftig, schmackhaft und frisch. Wer erleben möchte, wie spanischer Wein vor Hunderten von Jahren einmal geschmeckt haben könnte, kommt an den aufregenden Vulkanweinen der Kanaren von den uralten wurzelechten Reben nicht vorbei.