Das sehr komplexe Zusammenspiel von Oxidation und Reduktion bekommt durch den weitgehenden Verzicht auf Schwefeldioxid natürlich nochmal eine neue Dimension. Schwefel ist der einfachste und wichtigste, aber nicht der einzige Oxidationsschutz für Wein. Will ein Winzer versuchen ohne oder mit möglichst wenig davon auszukommen, müssen diverse andere Parameter umso mehr erfüllt sein.
Chemische Alternativen
Ein gezielter Einsatz von Trockeneis während und nach der Ernte für einen Sauerstoff-minimierten und kühlen Transport ist in den Ländern der Neuen Welt weit verbreitet und auch zur Naturwein-Erzeugung ist es hilfreich. Während und nach dem Pressen der Trauben ist ein Einsatz von Inertgasen wie Kohlendioxid, Argon oder Stickstoff ein veritabler Ersatz für Schwefel als Schutz vor zu viel Sauerstoffkontakt. Auch danach sollte es möglichst reduktiv weitergehen. Das heißt Behälter sollten stets komplett gefüllt sein, möglichst ohne Oberfläche. Auch ein ausgedehnter Kontakt mit der Hefe ist ebenso sinnvoll wie zielführend, da sie ein starkes Reduktionsmittel (Oxidationsschutz) ist und den Einsatz von Schwefel weitgehend ersetzen kann.
Natürlicher Schutz
Auch das Behalten der während der Gärung entstehenden Kohlensäure dient als Oxidationsschutz. Sie wird bei Natural Wines häufig mit abgefüllt und bitzelt ein wenig auf der Zunge. Sturzkaraffieren oder die Flasche leicht Schütteln vor dem Öffnen schaffen Abhilfe.
Naturwein und Oxidation
Gute Naturweine sind also trotz des Verzichtes auf Zusatz von Schwefeldioxid sensorisch nicht zwingend oxidativer als konventionelle Weine und schon gar nicht oxidiert. Dennoch weisen sie natürlich häufiger Aromen auf, die mit Oxidationseinflüssen in Verbindung stehen. Noten von fermentiertem Apfel oder Birne, Curry, Wurzelgemüse oder Nüssen findet man in Naturweinen sehr viel häufiger.
Malolaktische Gärung
Die meisten Naturweine durchlaufen aus Stabilisierungsgründen auch eine malolaktische Gärung, während der vereinfacht gesagt spitze Apfelsäure durch Milchsäurebakterien abgebaut wird. Es entspricht natürlich der minimal-invasiven Idee diesen meist von selbst ablaufenden Prozess nicht zu unterbinden. Zudem läuft man in einem beinahe Schwefel-freien, unbehandelten Milieu Gefahr, dass die Malo nach der Abfüllung auf der Flasche passiert. Beispielsweise wenn sie etwas zu warm gelagert wird. Auf Grund einer beinahe obligatorischen Malo fühlen sich Naturweine oft etwas weicher, säureärmer und texturierter an, als Weine bei denen sie durch Abschwefeln unterbunden wird. In Cool-Climate-Anbaugebieten in denen Weine mit einem sehr niedrigen pH-Wert von 3 oder darunter geerntet werden, können Naturweine auch ohne Malo stabil gefüllt werden. In diesem pH-Bereich sind die Milchsäurebakterien kaum zur Arbeit bereit.
Das Zusammenspiel
Der Mitspieler der Oxidation ist die Reduktion. Eine Vielzahl von Ursachen – gewollt oder ungewollt – kann zur Reduktivität im Wein führen. Für Böden gilt in der Regel je karger (vor allem stickstoffärmer) desto eher wird eine Reduktion gefördert. Auch im ökologischen Weinbau wird Schwefel als Spritzmittel eingesetzt. Je nach Häufigkeit und Zeitpunkt der Anwendung bringen die Trauben dadurch schon gewisse Schwefelgehalte mit in den Keller, was ebenfalls zu einer reduktiveren Entwicklung führen kann. Screwcaps oder andere hochdichte Verschlüsse, der Verzicht auf Abstiche (Umfüllen des Weines zwischen verschiedenen Behältnissen), eine längere Lagerung auf der Hefe und etliche andere Gründe können Ursachen sein. Reduktivität ist also kein prinzipielles Anzeichen für eine hohe Schwefelung, kann aber durchaus auch Ausdruck gezielter Schwefelung sein. Denn die sensorische Auswirkung hängt maßgeblich mit verschiedenen Schwefelverbindungen zusammen.
Sensorische Noten von Reduktion
Aromatisch drückt sich Reduktivität vor allem durch Schwefelwasserstoff und andere Schwefelverbindungen wie Sulfide, Disulfide oder Mercaptane aus, die von der Gärhefe gebildet werden. Je nachdem in welcher Kombination und Ausprägung sie vorkommen, erinnert der Geruch an Feuerstein, gezündete Streichhölzer, Gummi, Kimchi oder Ähnliches. Es prägen sich also Aromen aus, die eher mineralisch, rauchig oder pflanzlich anmuten und teils auch schlecht riechen können. Bei kontrolliertem, nicht übermäßigem Auftreten dieser Noten verschwinden sie mit zunehmendem Sauerstoffzutritt durch Flaschenreife oder durch Belüftung vor dem Genuss. Ein hartnäckiger »Böckser« wird allerdings nicht mehr verschwinden.
Für manche Erzeuger sind ausgeprägte Reduktionsnoten gar zu einer nicht selten gefeierten Signatur geworden. Die Rede ist von Coche-Dury-Reduktion, Stephane-Tissot-Reduktion, Schäfer-Fröhlich-Reduktion oder Schätzel-Reduktion. Es wäre vermessen solchen Winzern handwerkliche Mängel nachzusagen, auch wenn die gesetzliche Weinkontrolle dies hin und wieder tut. Das Gegenteil ist der Fall. Den Wein in eine mehr oder weniger ausgeprägte Form der Reduktion laufen zu lassen und diesen dann auch so zu veröffentlichen ist hier meist geradeheraus Absicht. Wenngleich es nicht immer so einfach unter Kontrolle zu halten ist, macht es dennoch einen Teil der Stilistik im Ausbau oder spezieller geoklimatischer Bedingungen aus.