Vor einigen Monaten wurde in sozialen Medien diskutiert, ob sich Gastronomiekritiker einem Test zu ihrem kulinarischen Wissen unterziehen lassen sollen. Spontan überkam mich Mitleid mit den schreibenden Kollegen. Einerseits, weil sie viel über Gastronomie im Allgemeinen und Kochen im Besonderen wissen müssen und daher fast immer im Lernprozess sind. Denn seien wir mal ehrlich, in fast allen deutschen Regionen und Haushalten spielt Kulinarik immer noch eine untergeordnete Rolle. In der deutschen, von Discountern dominierten, Warenwelt sind der Preis und die Etikettierung der Produkte leider viel wichtiger als der Geschmack.
Andererseits, um es noch schwieriger zu machen, haben wir sogar mehrere an kulturellen Grenzen nebeneinander existierende Hochküchen in Deutschland. Die wichtigsten sind vermutlich die französische, die italienische, die »asiatische« und mindestens noch eine genuin deutsche Hochküche. Wie soll sich ein junger Mensch, der Nachwuchs scheint mir hier vom Kritiker adressiert zu sein, dies erarbeiten und aneignen, wenn er in Berlin, Kassel, Köln, Bielefeld oder Bremen sozialisiert wurde. Das ist ein verdammt langer Weg! Und manchmal ist es unglaublich schwierig, sich die Intuition im Genuss zu bewahren und sich zusätzlich das I-Tüpfelchen, was die Kennerschaft ausmacht, anzueignen.
Der unmittelbare Bezug zum Genuss scheint etwas zu sein, das für den sogenannten Mitteleuropäer im Vergleich zum Homo mediterraneus nach der kindlichen Sozialisation kaum mehr aufzuholen ist. Mag sein, dass diese These für den einen oder anderen übertrieben scheint, wenn man aber bei einem Besuch in einem Restaurant in Italien miterlebt hat, mit welcher Selbstverständlichkeit sich die Gäste mit dem Wirt nach dem letzten von zehn Trüffelgängen noch ein Bistecca Fiorentina und einen Montefalco Rosso Riserva teilen, dann muss man leider gestehen, dass es diese Momente in der deutschen Gastronomie eigentlich nicht gibt.
Essen in der deutschen Spitzengastronomie ist mittlerweile sehr vielschichtig, eines ist es aber fast immer nicht, authentischer aus sich selbst schöpfender Genuss. Wenn dieser Moment sich dann mal einstellen könnte, kommen die Gästen ins Spiel und dann missglückt es erst recht. Dieser Moment, der sich vielleicht am besten mit einem beim Essen einsetzenden Glücksgefühl beschreiben lässt. Dieser Moment, bei dem alles zueinander findet und von dem man wünscht, dass er so lange anhalten soll, dass man schließlich nicht mehr nach Hause gehen möchte, genau dieser wird von der Intuition, von einem Gefühl, und nicht von Rationalität, eingeleitet. Viele Restaurantkritiker in Deutschland, so ist meine Beobachtung, sind oft sehr gut bei der Analyse ihres Untersuchungsgegenstands, Hedonismus sucht man leider oft vergeblich.
Der Wettbewerbscharakter und darin der Wunsch sich zu profilieren und abzugrenzen, scheint den Mainstream der Spitzengastronomie in Deutschland anzutreiben. Und all das sollen die jungen Menschen über sich ergehen lassen, dachte ich so vor mich hin, und begann mich auf das nächste Glas Wein zu freuen.
Wie gut habe ich es doch als in Norddeutschland sozialisierter Weinenthusiast mit meinem Wein! Irgendwie haben wir hier die önologische Gnade der späten Geburt, denn rechtlich gesehen darf der Homo mediterraneus auch erst mit 16 Jahren loslegen, so wie der Flensburger oder Düsseldorf auch. Natürlich gibt es auch im Wein Dinge, die man sich erarbeiten darf, kann und manchmal auch muss. Aber im Verhältnis zur Hochküche ist er quasi barrierefrei. Der wichtigste Grundsatz beim Wein wird nie zu verleugnen sein: er muss schmecken! Und zwar immer nur der Person, die sich für grade diesen Wein entschieden hat. Es ist egal, was die besten Freunde, die Journalisten und die Facebook-Gruppen sagen, zunächst muss mein Wein nur mir schmecken. Es ist mein Recht, meinen Geschmack – dieses extrem diffizile Rasta aus unterschiedlichsten Parametern – so auszuleben, wie es mir entspricht, wie es mir gefällt und wie es mir Freude und Genuss bereitet.
Die Vielfalt dieses Kulturgetränks ermöglicht aber auch, dass es für jeden, der bereit ist Alkohol zu trinken, um diesen Umstand kommen wir nicht herum, den richtigen Wein gibt. Jeder von uns, wenn er die Möglichkeit hätte alle Kategorien und Spielarten von Wein zu kosten, würde zumindest einen Wein – vermutlich aber viele mehr – finden, die ihr oder ihm einen Genuss bereitet, der vermutlich unvergleichlich ist, so behaupte ich zumindest! Und dies funktioniert sogar in beide Richtungen, denn es gibt wohl auch zu jeder Speise, zu jedem Gericht, so simpel, kompliziert, extrovertiert oder introvertiert dies auch sein mag, den passenden Wein, welcher einen solchen Genuss ermöglicht. Aber auch diese Wahrheit ist immer nur im Genuss der Trinkerin oder des Trinkers gespiegelt. Denn auch hier zählt nur der Geschmack des oder der einzelnen. Mir mag Sherry zu Serrano schmecken, jemand anders wird vielleicht Beaujolais zu luftgetrocknetem Schinken für unschlagbar halten.
Wein scheint somit das ultimative Getränk, vielleicht sogar Lebensmittel des individuellen Geschmacks zu sein, und damit eine Element von freiheitlicher Selbstbestimmung im Genuss! Welches andere Getränk oder Genussmittel könnte noch so etwas von sich behaupten? Vielleicht ist aber das schönste am Wein, dass er auch gleichzeitig neben der Möglichkeit einer individuellen Ausdrucksmöglichkeit, und hier wird es dann im Verhältnis zur individuellen Genussfreiheit paradox, wohl in seiner höchsten Genussform ein kollektives Getränk ist. Es gibt wohl nichts schöneres als einen Wein mit jemanden zu Teilen, die oder der diesen genauso schätzen kann wie man selbst, das ist dann quasi die Endstufe des Genusses, verbunden mit einem kollektiv freiheitlichen Einvernehmen, sich im Genuss auf grade diesen Wein geeinigt zu haben. Dies kann nur Wein, ein Prost an uns alle!