Ende Juli sind Elias Schlichting und ich gemeinsam in die Toskana gereist, um 34 unserer Winzerpartner zu besuchen und ihre neuen Jahrgänge zu probieren. Wie im Rest Europas ist 2022 auch hier soweit ein sehr warmes und trockenes Jahr. Die Weinlese wird dieses Jahr bei einigen Weingütern schon Mitte August beginnen – vier Wochen früher als 2021. Das wird die früheste Lese, die es jemals gab. Dies ist der dritte Teil meiner Reise.
Die an der Adriaküste Italiens gelegenen Regionen Abruzzen und Marken sind im Vergleich zur benachbarten Touristenhochburg der Toskana wesentlich weniger überlaufen. Die Weingüter hier sind bodenständig, hier gibt es keine großen Schlösser und die Keller sind im Vergleich zu denen der toskanischen Nachbarn rudimentärer. Die Inhaber sind meistens zugleich auch Weingärtner und passionierte Winzer. Diese beiden Regionen gehören für mich zu den charaktervollsten Weinregionen Italiens.
Nach unserer Tour durch die Toskana fahren wir von Capalbio, dem südlichsten Teil der Region, hinüber in die Abruzzen, die östlich von Rom an der Adria-Seite Italiens gelegen sind. Die Fahrt führt uns über das dramatisch karge Apennin-Gebirge und die Landschaft ändert sich von den großen und mit Zypressen gezierten sommerlichen Weizen- und Sonnenblumenfeldern der Toskana hin zu dichten und wilden grünen Wäldern, die sich bis zum Meer hinab an die Felsen krallen. Der gewaltige Gran Sasso thront erhaben über der Region.
In den Abruzzen gibt es zwar auch Sangiovese, aber die wichtigste rote Rebsorte ist die Montepulciano, die wild-würzige, dunkle Weine mit reifen Tanninen hervorbringt. Die ursprüngliche Trebbiano d’Abruzzo ist hier zu Hause und unterscheidet sich durch ihre Komplexität und Intensität von der Masse der einfachen Trebbiano-Weine. Auch die autochthone weiße Pecorino bringt Weine von phänomenaler mineralischer Intensität und der extra-präzisen Frische hervor.
Die Marken erstrecken sich ebenfalls an der Adriaküste entlang, nördlich der Abruzzen an Ancona vorbei bis fast nach Rimini. Sie sind die Heimat der weißen Rebsorte Verdicchio. In den letzten Jahren bekommen die besten Verdicchio-Winzer endlich verdientermaßen mehr Aufmerksamkeit durch hohe Bewertungen für ihre durch den kalkhaltigen Untergrund mineral-getriebenen und zugleich dennoch duftigen Weine.
Die Weißweine aus den Abruzzen und den Marken outen sich bereits jetzt als absolute Knaller im Jahrgang 2021. Genauso wie in einigen anderen europäischen Weißwein-Regionen ist das Jahr auch hier absolut grandios: präzise, salzig-mineralisch, intensiv und frisch zugleich. Diese Weine zu verpassen wäre für jeden Liebhaber spannungsgeladener Weine tragisch, denn sie haben neben ihrer genialen Präsenz auch noch ein Reifepotential, das easy ein bis zwei Dekaden für Verzückung sorgen wird.
Tiberio
Cristiana Tiberio ist die Meisterin der Aromenvielfalt, Präzision und Intensität. Jeder Tiberio-Wein entfacht ein Feuerwerk im Mund. Just wow! Cristiana und ihr Bruder Antonio sind die zweite Winzergeneration ihrer Familie und schwören auf die alten Weinberge, die ihr Vater entdeckte. Die Berge sind mit einer »Massale Selektion« bepflanzt. Das heißt, dass nur die besten Rebstöcke über Jahrzehnte vermehrt wurden. Diese ursprünglichen, unveränderten Klone, die im Weinberg der Tiberios zu finden sind, sind heute sehr, sehr selten. Neue, nach bestimmten Merkmalen gezüchtete Trebbiano, Pecorino und Montepulciano-Reben gab es hier nie. Die Weine dieses bescheidenen 39 Hektar großen Weinguts sind unglaublich gut. Sie vibrieren vor Präzision, Spannung und salziger Mineralität. Alle Weine werden im Stahltank ausgebaut, selbst die Roten sehen kein Holz. Was ins Glas kommt, ist sozusagen die Essenz des Terroirs. Mega großes Kino!
Castello di Semivicoli
Unser nächster Besuch führt uns zum Castello di Semivicoli in Casacanditella, dem Hauptsitz der Tenuta Masciarelli. Das Anwesen liegt auf dem Bergmassiv Majella und überblickt Weinberge und Olivenhaine. Das Weingut selber liegt circa 20 Fahrminuten entfernt, während das Castello zu einem kleinen, aber feinen Luxushotel mit Verkostungsraum umfunktioniert wurde. Das Weingut hat eine berührende Geschichte. Der talentierte Winzer Gianni Masciarelli benannte die Topweine des Weinguts nach seiner geliebten Frau, Marina Cvetic. Das junge Paar hatte große Pläne, zusammen nahmen sie einen Berg an Schulden auf und kauften das verfallene Castello aus dem 17. Jahrhundert, um es zum Hauptsitz des Weinguts herzurichten. Dann starb Gianni tragischerweise, und Marina blieb mit dem Weingut und der Ruine des Castello zurück. Noch heute schwingt diese schwere Zeit in Erzählungen mit. Entschlossen legte sich die junge Frau allerdings ins Zeug und schaffte es, sowohl das Weingut erfolgreich weiterzuführen als auch die Bauruine fertigzustellen. Heute sind die Weine so gut wie nie zuvor. Besonders die Trebbiano Riserva 2020 ist sehr eindrucksvoll – reichhaltiger und cremiger als die Weine von Tiberio und Emidio Pepe.
Emidio Pepe
Bei unserer Anfahrt zum Weingut Emidio Pepe kommt endlich der von den Winzern diesen Sommer so sehnlich herbeigewünschte Regen. Aus der Ferne scheint das Weingut am Ende des Regenbogens zu liegen. Die Abruzzen sind im Vergleich zu den Hollywood-Sternchen der Toskana zwar offiziell eher die Underdogs, aber in Sommelierkreisen gehören die Weine der Region zu den Ikonen des italienischen Weinbaus. Beim Emidio Pepe wird Flaschenreife schon seit den 1960er Jahren gefeiert. Damals wurde Emidio wahrscheinlich für völlig verrückt erklärt! Heute hat das Weingut für diese vorausschauende Herangehensweise den absoluten Kultstatus erreicht. Ungefähr die Hälfte der Produktion – und nur der Wein aus den jüngeren Reben – wird beim ersten Release verkauft. Der Rest lagert im perfekt temperierten Keller bis zum idealen Zeitpunkt. Im Moment werden Jahrgänge aus den 1980ern bis 2002 verkauft. Erkennen kann man diese später auf den Markt gebrachten Flaschen am roten oder blauen Stempel auf dem Etikett »Selezione Vecchie Vigne«. Rotweine tragen außerdem ein Dekantierdatum auf dem Rückenetikett, woran man erkennen kann, wann die Flaschen den Keller des Weinguts verlassen haben.
Alle Rotweine, die länger als 20 Jahre in den Kellern gereift sind, werden von Hand dekantiert. Elisa, Emidios Enkelin, erklärt den aufwändigen Prozess, bei dem es bis zu einem Monat dauern kann, bis alle Flaschen umgefüllt sind. Dafür ist dann garantiert, dass die Weine nochmals vom Weingut auf mögliche Fehler gecheckt wurden. Bis zu einem Drittel des Flächeninhalts geht an das Sediment verloren! Zum Weingut gehört auch ein Agriturismo. Die Zimmer sind hell und modern eingerichtet. Aber das Restaurant ist der eigentliche Grund für eine Reise zum Weingut! Mit Sicht auf die malerisch schönen Abruzzen bietet es saisonale Produkte, aus Überzeugung natürlich alles 100 Prozent Bio. Das Fünfgang-Menü ist ohne viel Schnickschnack auf das Wesentliche konzentriert: Beste Zutaten. Die Weinkarte bietet perfekt gereifte Emidio Pepe-Weine zum fairen Preis. Hier sind die einfachen Dinge so unfassbar schön. Auch wenn es schon beinahe unmöglich ist, das zu bewerten – nach all den guten Teigwaren unserer Zehn-Tages-Tour, hatten wir hier die beste Pasta der Reise.
Garofoli
Das geschichtsträchtige Weingut Garofoli begleitet mit seinem Fokus auf Qualität den Aufstieg der leider häufig immer noch übersehenen Rebsorte Verdicchio. Vielleicht hat die Rebsorte noch nicht das Ansehen, das sie verdient, da es zugegebenermaßen jede Menge belanglosen Verdicchio gibt, aber wenn man sich an die Topwinzer hält, wird man von dem fantastischen Reifepotential überrascht – garantiert! Nach fünf bis zehn Jahren in der Flasche entwickeln sich zart nussige Aromen, die zusammen mit der Cremigkeit im Mund eine fabelhafte Intensität ins Glas zaubern. Das Terroir hier ist kalkhaltig, und so kommt die Präzision und frische Mineralik, die sich durch die Weine zieht, eins zu eins ins Glas. Die Verdicchio von Garofoli reifen in großen, neutralen Holzfässern und sind durch die Bank eine fabelhafte Entdeckung für alle, die gereifte Weißweine mit intensiver Mineralität schätzen.
Villa Bucci
Unser letzter Besuch der Reise ist zugleich auch ein weiterer Höhepunkt: das legendäre Weingut Villa Bucci. Claudia, die energiegeladenen Nichte von Ampelio Bucci, empfängt uns zusammen mit Ampelios rechter Hand, Gabriele Tànfani. Auf dem 350 Hektar großen Landbesitz werden 25 Hektar Verdicchio sowie 6 Hektar Montepulciano und Sangiovese gemacht. Der Rest ist seltenen Olivensorten, Weizen, Mais und Sonnenblumen gewidmet. Traditionell spielt Landwirtschaft auf dem Weingut bereits seit dem 17. Jahrhundert eine wichtige Rolle. Hier wurden niemals neue Reben zugekauft, sondern sie wurden aus den besten Stöcken der über 50 Jahre alten Rebanlagen mit Selection Massale gewählt. Dadurch haben Villa Bucci ebenso wie auch Tiberio in den Abruzzen einzigartige, sozusagen originale, Klone, die wiederum einzigartige, ausdrucksstarke Trauben hervorbringen. Seit Ampelio 1983 die ersten Weine hier auf die Flasche füllte, wurde nicht viel an der Weinbereitung geändert. Alle Weine werden in neutralen, 50 bis 75 Hektoliter großen Holzfässern separat nach Weinbergen getrennt ausgebaut. Die Riserva ist ein Blend der besten Weine der ältesten Reben. Wir probieren den ausgezeichneten 2021 Verdicchio Classico. Ein weiterer, beeindruckender Beweis, dass das Jahr in vielen Regionen Europas wundervolle, genussvolle und frische Weine hervorgebracht hat.