Wenn in der berühmten Rheingauer Weinbaugemeinde Kiedrich im Spätherbst die Weinlese zu Ende geht, haben die Erntehelfer von Wilhelm Weil meist etliche Kilometer allein im legendären Gräfenberg zurückgelegt. In unzähligen Durchgängen wurden über Wochen hinweg perfekte Trauben von den Rieslingreben gelesen.
Erst die knackig-frischen Beeren für die vibrierenden Kabinette, dann die reiferen, süßeren für Spät- und Auslesen und zu guter Letzt die rosinenartigen Zuckerdiamanten für die majestätischen Beeren- und Trockenbeerenauslesen. So unterschiedlich die Weine am Ende schmecken, so eng sind sie doch am Ende verwandt, denn Kabinett, Spätlese und Co. sind die Bezeichnungen der Prädikatsweine – der höchsten Qualitätsstufe im deutschen Weinbau. Sie sind ein Herzstück deutscher Weinbau-Identität, stehen sie doch im Grunde für Weintypen, wie man sie nirgendwo sonst auf der Welt findet. Weine, für die uns die restliche Welt beneidet. Die Trockenbeerenauslesen von Egon Müller oder Markus Molitor gehören mittlerweile zu den teuersten, höchstbewerteten und meistgesuchten Weinen des Planeten.
Die Geburtsstunde der Prädikate
Keine andere Reform hat die deutsche Weinbranche so sehr durcheinandergewirbelt wie die Weinrechtsreform von 1969/1971. Damals verständigte man sich auf ein neues deutsches Qualitätssystem: Als oberste Maxime für Weinqualität galt von nun an die Reife der Beeren – je reifer, desto hochwertiger der Wein. Eingeführt wurde die Kategorie der Prädikatsweine, damals noch unter der Bezeichnung „Qualitätswein mit Prädikat“. Ein System, das im krassen Gegensatz zum romanischen Qualitätsgedanken steht, wie man ihn traditionell in Frankreich verfolgt – dort gilt die Herkunft als entscheidendes Qualitätsmerkmal: Je enger die Herkunft, desto hochwertiger der Wein. Mit der Reform des europäischen Weinrechts ist man nun auch in Deutschland dabei, das System auf mehr Herkunft und weniger Reifefokus umzustellen. Prädikatsweine werden aber auch weiterhin Teil der Qualitätspyramide sein. Weine mit geschützter Ursprungsbezeichnung – somit Qualitätsweine – dürfen die Prädikate tragen, sofern sie bestimmte Mindestanforderungen erfüllen. Jedes der 13 deutschen Weinanbaugebiete definiert die Regeln hierfür selbst.
An der Mosel gelten beispielsweise andere Mindestreifegrade für die Prädikate als in Baden oder der Pfalz. Eines haben sie jedoch immer gemein: Die Aufzuckerung des Mostes, die „Chaptalisierung“, zur Erhöhung des Alkoholgehalts, ist bei Prädikatsweinen grundsätzlich verboten. Hinzu kommt die Regelung – sie kennt man bereits vom Verband Deutscher Prädikatsweingüter (VDP) – dass trockene Weine aus Ersten- und Großen Lagen keine Prädikate tragen dürfen. Beim Thema Prädikatswein trocken scheiden sich schon lange die Geister: Einige wenige Verfechter des trockenen Prädikatsweins, wie das Kultweingut Koehler-Rupprecht, halten die Fahne hierfür hoch – mit überragenden trockenen Spät- und Auslesen aus der Parade-Lage Kallstadter Saumagen.
Kabinette – Meister des Frischetrunks
Es ist die Feinheit und Verspieltheit, die vibrierende Frische und Eleganz, welche die besten Prädikatsweine charakterisiert. Alles beginnt mit den saftig-frischen Kabinetten – geniale Aperitif-Weine und auch hervorragende Begleiter von würzigen, pikanten Speisen. Die besten ihrer Art können zudem genial reifen – alte Kabinette von der Mosel und aus dem Rheingau betören immer wieder aufs Neue.
Die Spätlese – Urahn der Prädikate
Spätlesen setzen mehr Akzente in Sachen Süße – die Trauben dürfen hierfür etwas länger am Rebstock ausreifen. Das Licht der Welt soll die Spätlese auf Schloss Johannisberg im Rheingau schon im Jahr 1791 erblickt haben. Heute kommen die besten ihrer Art nicht nur vom Rhein, sondern auch von der Nahe (wie etwa Dönnhoff mit seiner kultigen Spätlese aus der Hermannshöhle beweist) und auch ganz klassisch von der Mosel, wo sie oft noch etwas zupackender und mineralischer ausfallen.
Königin Auslese
Noch etwas voluminöser, süßer und hedonistischer steht die Auslese im Glas: Sie vereint das Beste aus Süße und Frische und ist bei aller Wollust wunderbar animierend – meist mit geringem Alkoholgehalt und packender Säurestruktur, wie die besten Auslesen aus dem Moseltal zeigen. Dort gibt es in Sachen Foodpairing einen echten Geheimtipp:
Die Elixiere: Beeren- und Trockenbeerenauslesen
Den Olymp der Prädikate erreicht man mit den Beeren- und Trockenbeerenauslesen. Für diese Weine reifen die Trauben oft bis in den Spätherbst an den Rebstöcken, sie verlieren fast ihr komplettes Wasser, der Zucker konzentriert sich auf. Rosinenartige Diamanten landen dann in den Lesekörben der Erntehelfer. Im Weingut läuft von der Korbpresse nur tröpfchenweise ein dunkler, zähflüssiger Saft. Die Weine sind einerseits gehaltvoll, dementgegen steht eine packende Säurestruktur. Eine Kombination, welche die besten Beeren- und Trockenbeerenauslesen am Gaumen schlichtweg schweben lässt. Und das für Jahrzehnte – durch ihren hohen Zuckergehalt sind diese Prädikate fast unbegrenzt haltbar. Und das Beste: Sie werden dabei sogar besser.
Kultwein Eiswein
Eine Besonderheit stellt der Eiswein dar, der meist aus Trauben der Reifestufe Beerenauslese gemacht wird. Im Spätherbst und Frühwinter, wenn die Temperaturen nachts mindestens unter minus 7 Grad Celsius sinken, darf in Deutschland Eiswein gelesen werden. Die Trauben müssen noch im gefrorenen Zustand gepresst werden und sollten im besten Fall keine Edelfäule aufweisen. Resultat: Ein besonders süßer, dennoch leichtfüßiger und ganz und gar eigenständiger Wein, der immer ein besonderes Erlebnis darstellt, wenn er in einer Runde mit Weinliebhabern geöffnet wird.
Glücklicherweise werden die Prädikate auch nach der Novellierung des deutschen Weinrechts Bestand haben, sind sie doch ein wesentlicher Ausdruck dessen, was im Cool Climate Deutschlands möglich ist: Vibrierende und spannungsgeladene Weine aus den heimischen Sorten, mit perfekter Balance aus Säure und Süße bei äußerst moderaten Alkoholgehalten.