Die Klimafaktoren für 2020
Die entscheidenden Klimafaktoren des Jahres 2020 sind mit drei Zahlen schnell erklärt:
- Niederschlag um Beaune von April bis September: 215 mm (etwas über 400 mm sind die Norm)
- Sonnenscheinstunden von April bis September um Dijon: 1573 h (nur knapp 1300 Stunden scheint die Sonne in einem regulären Jahr)
- Durchschnittstemperatur um Beaune zwischen April und September: 18.5° C (normal sind aktuell durchschnittlich 17° C in diesem Zeitraum)
Nach einem erneut eher milden Winter 19/20 kamen Austrieb (März) und Blüte (Mitte-Ende Mai) wieder vorzeitig in 2020. Die erste Jahreshälfte wies eine große Amplitude zwischen kühl und bereits ungewöhnlich warm auf. Einzige Konstante war die Trockenheit. Burgund-Urgestein Fréderic Barnier – viel beleumundeter Betriebsleiter von Louis Jadot – fasst trefflich zusammen: »Diese ungewöhnlichen Frühjahrsbedingungen sind der Schlüssel zum Verständnis des ungewöhnlichen Charakters dieses Jahrgangs, da die Pflanzen in der Lage waren, hohe Mengen an organischen Säuren zu synthetisieren.« Schon Ende April, Anfang Mai notierte der Vineyard-Manager von Faiveley: »Wir sind 24 Tage vor Jahrgang 2019«. Da war dann schon klar: das wird wieder eine sehr frühe Geschichte.
Am Gaumen weist der Jahrgang 2020 allgemein recht feine Tannine auf, was in Anbetracht des erheblichen Verhältnisses von Schale zu Saft eine beeindruckende Leistung ist, die sicherlich auf sanftere Pressungen zurückzuführen ist.
Der Sommer hatte etwas weniger extreme Hitzespitzen als 2019 und 2018, dazu etwas kühlere Nächte. In Summe war 2020 dann aber sogar das wärmste der drei Jahre. Häufig wird vergessen, dass Hitze – und vor allem Trockenheit – nicht nur die Zuckerentwicklung, sondern auch die Säuren und Gerbstoffe durch niedrigere Erträge und dicke Beerenschalen aufkonzentrieren. Hohe Reife, massenhaft Tannin und hohe Säuren – ein Traum! Neal Martin vom Team Galloni hat viel Lob für die Arbeit der Winzer in diesem Ausnahmejahr übrig: »Am Gaumen weist der Jahrgang 2020 allgemein recht feine Tannine auf, was in Anbetracht des erheblichen Verhältnisses von Schale zu Saft eine beeindruckende Leistung ist, die sicherlich auf sanftere Pressungen zurückzuführen ist.« Viele Domaines setzen auch auf größere Fässer im Ausbau, so nehmen auch bei Jadot, die eine eigene Tonnellerie besitzen, Fuder und 500 Liter-Fässer mittlerweile einen ganz natürlichen Platz neben den klassischen 228ern ein. Wer nicht adaptiert, wird in solchen Jahren brühwarm abgekocht.
Der mediterrane Powersommer hat dem Burgund dann Mitte August schließlich den frühesten Lesestart seit 2003 beschert, dennoch wurden nicht selten die vollen 100 Tage Reifezeit nach der Blüte erreicht bis zur Lese. Für Verkoster-Legende Neal Martin ist dank »bemerkenswert hoher Frische jeglicher Vergleich mit dem Jahr 2003 null und nichtig«.
Immer mehr Domaines gehen zu jungle-ähnlichen Laubwänden als Sonnenschirm à la Methode Leroy über. Viele Parzellen werden heute nicht nur innerhalb weniger Stunden mit riesigen Lesemannschaften, sondern auch meist nur noch während den frühen Morgenstunden geerntet. Unzählige Domaines verlängern die Ausbauzeit über einen zweiten Winter im Fass, wie es d’Angerville schon in 2018 getan hat, um mehr Spannung in die Weine zu bekommen. Andere Verkürzen die Ausbauzeit, um mehr jugendliche Frische in die Flasche zu übersetzen. Jede Top-Domaine hat vom Weinberg bis zur Vinifikation die für sie passenden Mittel und Wege entwickelt, um wärmeren Jahren Herr zu werden. »Mit anderen Worten: Da sich die Vegetationsperiode 2020 trotz all ihrer Extreme stark von der des Jahres 2003 unterscheidet, so gilt dies vor allem auch für die Art und Weise, wie die Erzeuger an sie herangegangen sind.« betont William Kelley.
Ein weiterer Faktor der 2020 trotz Hitze zur Größe verhalf, war Schnelligkeit. Nicht umsonst überschreibt Neal Martin seinen 2020 Report als »dancing the quick step«. Speed is key – und zwar bei der Entscheidungsfindung der Winzer, die aus den teils zu spät und zu unstrukturiert gelesenen Jahren gelernt haben. Und bezogen auf ihre Lesemannschaften, die in der Folge immer schlagkräftiger und größer werden. Domaine Faiveley hat 2020 mit unglaublichen 300 Leuten die Handlese angetreten – der helle Wahnsinn!
Da die Qualität der weißen 2020er aber in vielen Fällen »best ever« ziemlich nahe kommt, dürften diese ebenso rasch vom Markt aufgesaugt werden wie die selteneren Roten.
Die Qualität der Trauben
Die Traubengesundheit war durch die intensive Trockenheit entlang aller Côtes ziemlich makellos. Instagram-Trauben soweit das Auge reichte. Die Erntemenge war beim hitzeempfindlicheren Pinot Noir aus den sehr konzentrierten Beeren recht gering, kleiner noch als das ohnehin kleine 2019 und damit rund ein Drittel weniger als die Norm. Die Chardonnay-Ernte war generöser und lag nur marginal unter dem langjährigen Mittel. Da die Qualität der weißen 2020er aber in vielen Fällen »best ever« ziemlich nahe kommt, dürften diese ebenso rasch vom Markt aufgesaugt werden wie die selteneren Roten. Obwohl ihn wirklich niemand gebrauchen konnte, kam dann noch der hammerharte Spätfrost des Frühjahrs 2021 ungefragt reingeschneit und hat einige Weinberge fast vollständig abgefackelt. Eine der kleinsten Weinernten der Moderne! Natürlich wirkte sich das auch zunächst auf die Zuteilungen der 20er aus. Wer also auf Nummer sicher gehen will, sollte sich seine Lieblingsburgunder aus 2020 möglichst rasch sichern. Was im nächsten Jahr noch nachkommt, steht erstmal in den Sternen.
Les Rouges 2020 – eine Naturgewalt
Besonders pittoresk ist er nicht, der geräumige Neubau des aufstrebenden Hidden Champion Nicolas Rossignol in der Peripherie von Beaune. Mit einem ironischen Augenzwinkern schmetterte mir Nicolas zu Beginn des Tastings etwas entgegen, über das ich in den folgenden Monaten noch viel nachdachte: »Der letzte ‘echte’ Jahrgang burgundischer Pinot Noirs war 2017. Was 2018 folgte war eher Grenache: rund, gewaltig, reif, dunkelfruchtig. 2019 ernteten wir quasi Syrah: fest, dunkel, säurestark, aber mediterran. In 2020 hatten wir dann Mourvèdre in den Fässern: Pinots mit einer im Burgund nie dagewesenen Farbintensität, dazu feinste Tannine bis zum Abwinken und überwältigende Frische.« Er wird es wohl gut beurteilen können, denn kaum ein anderer Winzer von dieser kleinen Domaine-Größe legt so viel Jahrgangstiefe von Toplagen in seinem Keller zurück, um sie nach Trinkreife zu veröffentlichen, wie Nicolas Rossignol. Er ist sogar extra in diesen Neubau gezogen, um Platz für seine konsequente Late-Release-Philosophie zu haben.
Nicolas schiebt mir ein Glas seines 2017er Volnay 1er Cru Caillerets rüber. Er ist zartduftig, feingliedrig, himbeerig – »très pinoté, non?«, raunzt Nicolas vergnügt. »Versteh’ mich nicht falsch«, fügt er hinzu, »selten habe ich größere, beeindruckendere Weine im Burgund probiert wie in den letzten Jahren – nur sie sind eben anders als früher.« Selbst Parkers William Kelley, der sich auch privat durch sämtliche Jahrzehnte des Burgunds trinkt als wollte er ein wandelnder Vintage-Chart werden, stößt bei diesem Ausnahmejahr an seine Grenzen: »Normalerweise suche ich nach Analogien zu älteren Jahrgängen, aber ich kann keine Analogie für die 2020er finden.« Der Pinot Noir ist tot? Lang lebe der Pinot Noir!
Normalerweise suche ich nach Analogien zu älteren Jahrgängen, aber ich kann keine Analogie für die 2020er finden.
Insider’s Burgundy
Im wärmenden Aufwind großer Jahrgänge steigen die früher gerne übersehenen »Randappellationen« mit ihren neugewonnenen Flügeln in den Weinolymp auf. Unsere neueste Entdeckung, Geheimtipp Philippe Menand, der kaum ein Wort Englisch spricht und täglich alleine zwischen seinen Reben steht, zeigt neben Meister Bruno Lorenzon, welche intensive Wucht Mercurey heute geworden ist. Auch Ausnahmewinzer Jean-Marc Vincent lässt keinen Stein auf dem anderen und pusht seine Weinberge in und um Santenay weit über einst geglaubte Limits hinaus. Selbst ein Gregory Viennois von La Chapelle kommt mit seinem Irancy Cru Les Batardes auf einen atemberaubenden Druck aus 14-voltiger Dynamik und damit zu 93 Parkerpunkten – und das wohlgemerkt aus der nördlichsten Exklave burgundischen Pinot Noirs. Das sind Weine wie aus einer anderen Galaxie – und richtig viel bang for the buck.
Auch wenn die Intensität von 2020 teils der Rhône die Hand reicht, sind die Säuren erstaunlich hoch, was laut Neal Martin zu »beeindruckender Strahlkraft und Lebendigkeit« in den Weinen führt. Jedoch empfand ich die 2020er Pinot Noirs etwas weniger einheitlich balanciert als die Weißen 2020er. Je nach Terroir und Erntezeitpunkt changieren sie zwischen bestechender Eleganz, Kühle und Finesse bis hin zu gewaltiger, mediterraner Struktur mit hoher Reife bis an die Kante zur Überreife. Die top-gesunden Beeren waren dickschalig, klein und kernig. Sie gaben nur widerwillig ihren hochkonzentrierten, intensiven Saft preis. Die Fruchtfülle und das Parfüm der roten 2020er sind überschwänglich. Dichte Wolken aus Waldfrüchten und dunklen Kirschen kamen aus den Gläsern. Haben Sie etwa schon mal solch gewaltige Monthelies oder Auxey-Duresses probiert? Ich nicht. Oder wie Stuart Pigott über Paquets Auxey 2020 schreibt: »Beeindruckende Tiefe und Struktur für diese unterschätzte Appellation.« Es gibt in der Spitze keine Dogmen mehr, weder in den Weinbergen noch im Keller. Selbst Domaines, die eigentlich für 100-Prozent Entrappung stehen – wie Jadot oder d'Angerville – machen Trials mit teilweiser Whole-bunch-Vergärung in diesen heißen Jahren. Jadot haben in ihrem genialen 2020 Beaune 1er Aux Cras erstmals rund ein Drittel Rappen eingesetzt. Das Ergebnis? Neal Martin gesteht, er hätte es blind nicht mal gemerkt, so intensiv steht dieser Jahrgang dagegen an.
Die elegante Kraft der 2020er Pinots fesselt sofort und lässt mich nicht mehr los. Auch William Kelley ist nachhaltig begeistert: »Sie zeichnen sich durch tiefe, satte Farbtöne, eine enorme Konzentration und pulsierende Aromen aus. Die besten Rotweine des Jahrgangs 2020 sind beeindruckende Weine, die für die Ewigkeit gemacht sind.« In der Spitze war absolute Weltklasse möglich in diesem Blockbusterjahr. Exemplarisch für sooo viele wirklich beeindruckende Stars aus 2020 stehen hier einige meiner Highend-Lieblinge des Jahres:
2020er Chardonnay – das Wunder von Beaune
»Die weißen Burgunder des Jahrgangs 2020 gehören eindeutig zu den besten, die in den letzten zwei Jahrzehnten erzeugt wurden.« Mic Drop! Selten haut William Kelley eine so deutliche, breit angelegte Ansage raus. Aber wer bei den weißen 2020ern nicht in die Knie geht, der kann kaum ein Burgundista sein. Die Chardonnays betören mit einer ähnlichen Dichte wie 2019, wirken dabei allerdings deutlich schlanker und feiner. Auch aufgrund von lebhafteren Säuren, die sich zu einer kühlen Spannung verdichten. Alkohol und pH sind durch die Bank niedriger als in 2019. Auch Neal Martin war durchaus überrascht: »Die Weißweine verströmen keine Üppigkeit, sondern verfügen über hohen trockenen Extrakt, der ihnen im Abgang Volumen und eine schöne Textur verleiht.« Es ist mit 2014 und 2017 ziemlich sicher das beste Weißweinjahr der letzten 10 Jahre und darüber hinaus. Die Balance der weißen 2020er ist schlicht herausragend.
Jahrgänge mit hoher Reife wie 2015, 2019 oder 2020 haben mit ihren sehr niedrigen Äpfel- und hohen Weinsäuregehalten also meist eine vibrierende, griffigere Textur – nicht andersherum.
Beim Chardonnay prägt das Wein-/Äpfelsäure-Verhältnis den Charakter eines Jahrgangs auf andere Weise, wie man das vielleicht vermuten würde. Da die Malo bei fast allen Domaines Standard ist, wird die Äpfelsäure ohnehin größtenteils verstoffwechselt und in cremigere Milchsäurebestandteile umgewandelt. Ein kühleres Jahr – mit mehr Äpfelsäure im Most – bedeutet hier also nicht wie in Deutschland immer auch mehr sensorische Säure im Wein, sondern nicht selten sogar mehr Cremigkeit und höhere Laktatgehalte. Jahrgänge mit hoher Reife wie 2015, 2019 oder 2020 haben mit ihren sehr niedrigen Äpfel- und hohen Weinsäuregehalten also meist eine vibrierende, griffigere Textur – nicht andersherum. War dieser Effekt je eindrücklicher schmeckbar als in den 2020ern?!
Wer die kühle Brillanz des »Hitzejahres« 2020 auf der eigenen Zunge erfahren will, dem sei dieses Jahr Jadots fantastischer Chassagne 1er Cru Morgeot wärmstens empfohlen. Spannend auch daneben Faiveleys, einen Tick später gelesener Morgeot, etwas reicher und druckvoller, aber nicht weniger spannend. Domaine Marc Moreys Morgeot liegt stilistisch in der goldenen Mitte und hat eine traumhafte Balance. Stuart Pigott attestiert ihm für Suckling gar »the stature and finesse of a Grand Cru white Burgundy«. Die etwas tiefgründigeren, lehmigeren Lagen sind in trockenen Jahren eben wieder besonders stark. Eine atemberaubende Kollektion 2020 hat mir auch Domaine Pierre Morey eingeschenkt. Hier einen Liebling zu nennen ist unmöglich, aber im Zweifel gewinnt halt immer Meursault 1er Perrières, nicht wahr? Verpassen Sie auch nicht unsere super-raren Nachkäufe aus Pierre Moreys Schatzkammer – da ist auch ein 2017er Perrières dabei.
Die weißen 2020er werden schon in wenigen Jahren so gesucht sein wie heute 2014 oder 2010, nur dass der Markt sich heute jährlich immer weiter beschleunigt. Laut der bekanntesten Weinsuchmaschine Wine-searcher waren 9 der 10 wertvollsten Weine 2022 rote und weiße Burgunder. Burgund around the world! Am Ende kann ich nur dazu raten, sämtliches von Oma geerbtes Goldrandgeschirr, die alte Day-Date oder den Familienvan zu versilbern, um sich diese 2020er Blockbuster reulos unter den Nagel zu reißen. Bereuen werden Sie das nie.
2020 ist ein beeindruckendes, ja berauschendes Jahr, das bei den Top-Domaines mit wenigen Abstrichen mit zum Besten zählt, das es in den letzten Jahrzehnten gab. Zurücklehnen und genießen mit atemberaubend hedonistischen Pinot Noirs und sich mitreißen lassen von vibrierend-saftigen Chardonnays. Wer ausgewählt einkauft, hat mit diesem Jahrgang gewiss Jahre und Jahrzehnte größte Freude. Burgundfreaks – vereint im Genuss!