Das sehr komplexe Zusammenspiel von Oxidation und Reduktion bekommt durch den weitgehenden Verzicht auf Schwefeldioxid natürlich nochmal eine neue Dimension. Schwefel ist der einfachste und wichtigste, aber nicht der einzige Oxidationsschutz für Wein. Will ein Winzer versuchen ohne oder mit möglichst wenig davon auszukommen, müssen diverse andere Parameter umso mehr erfüllt sein.
Ein gezielter Einsatz von Trockeneis während und nach der Ernte für einen Sauerstoff-minimierten und kühlen Transport ist in den Ländern der Neuen Welt weit verbreitet und auch zur Naturwein-Erzeugung ist es hilfreich. Während und nach dem Pressen der Trauben ist ein Einsatz von Inertgasen wie Kohlendioxid, Argon oder Stickstoff ein veritabler Ersatz für Schwefel als Schutz vor zu viel Sauerstoffkontakt. Auch danach sollte es möglichst reduktiv weitergehen. Das heißt Behälter sollten stets komplett gefüllt sein, möglichst ohne Oberfläche. Auch ein ausgedehnter Kontakt mit der Hefe ist ebenso sinnvoll wie zielführend, da sie ein starkes Reduktionsmittel ist und den Einsatz von Schwefel weitgehend ersetzen kann. Auch das Behalten der während der Gärung entstehenden Kohlensäure dient als Oxidationsschutz. Sie wird bei Natural Wines häufig mit abgefüllt und bitzelt ein wenig auf der Zunge. Sturzkaraffieren oder die Flasche leicht Schütteln vor dem Öffnen schaffen Abhilfe - unkonventionelle Weine erfordern unkonventionelle Methoden!
Gute Naturweine sind also trotz des Verzichtes auf Zusatz von Schwefeldioxid sensorisch nicht zwingend oxidativer als konventionelle Weine und schon gar nicht oxidiert. Dennoch weisen sie natürlich häufiger Aromen auf, die mit Oxidationseinflüssen in Verbindung stehen. Noten von fermentiertem Apfel oder Birne, Curry, Wurzelgemüse oder Nüssen findet man in Naturweinen sehr viel häufiger. Generell erwecken sie eher den Eindruck von erdigen, mineralischen oder elementaren Aromen als von reiner Frucht. Das lässt Naturals oft mehrdimensional und charaktervoll erscheinen und macht sie zu äußerst interessanten Speisebegleitern. Nur einer von vielen guten Gründen, weshalb sie sich in der Sommelier- und Gastroszene weltweit so großer Beliebtheit erfreuen. Es ist die große Handwerkskunst der Naturwinzer, diese Nuancen harmonisch einzubinden und zu einem ansprechenden, lebendigen Aromenspektrum zu vereinen. Das ist alles andere als einfach! Deshalb gab und gibt es auch dermaßen viele minderwertige, viel zu schräge Natural Wines.
Der Hotspot der oxidativen Drahtseilakte ist – neben Andalusien – das französische Jura. Viele Naturwinzer ließen und lassen sich vom Jura inspirieren und begeistern. Als Guillaume d’Angerville aus dem burgundischen Volnay seine Dependance im jurassischen Arbois begann (Domaine du Pélican), gab er ganz offen zu, dass er natürlich zunächst sehr reduktive, burgundische Weine hier erzeugte. Schlicht und ergreifend, weil er dieses oxidative Spiel noch nicht wirklich beherrschte und erst von seinen neuen Nachbarn lernen musste. Sich im Spannungsfeld zwischen Oxidation und Reduktion zu bewegen, hat viel mit Empirie, Mut und Gelassenheit zu tun. Genauso verhält es sich mit dem Natural-Winemaking. Das bewusste Weglassen bewährter Methoden, die eben vor allem auch Sicherheit vermitteln, ist etwas worauf man sich nicht nur einlassen, sondern es auch beherrschen muss.
Die meisten Naturweine durchlaufen aus Stabilisierungsgründen auch eine malolaktische Gärung, während der vereinfacht gesagt spitze Apfelsäure durch Milchsäurebakterien abgebaut wird. Es entspricht natürlich der minimal-invasiven Idee diesen meist von selbst ablaufenden Prozess nicht zu unterbinden. Zudem läuft man in einem beinahe Schwefel-freien, unbehandelten Milieu Gefahr, dass die Malo nach der Abfüllung auf der Flasche passiert. Beispielsweise wenn sie etwas zu warm gelagert wird. Auf Grund einer beinahe obligatorischen Malo fühlen sich Naturweine oft etwas weicher, säureärmer und texturierter an, als Weine bei denen sie durch Abschwefeln unterbunden wird. In Cool-Climate-Anbaugebieten in denen Weine mit einem sehr niedrigen pH-Wert von 3 oder darunter geerntet werden, können Naturweine auch ohne Malo stabil gefüllt werden. In diesem pH-Bereich sind die Milchsäurebakterien kaum zur Arbeit bereit.
Der Mitspieler der Oxidation ist die Reduktion. Eine Vielzahl von Ursachen – gewollt oder ungewollt – kann zur Reduktivität im Wein führen. Für Böden gilt in der Regel je karger (vor allem stickstoffärmer) desto eher wird eine Reduktion gefördert. Auch im ökologischen Weinbau wird Schwefel als Spritzmittel eingesetzt. Je nach Häufigkeit und Zeitpunkt der Anwendung bringen die Trauben dadurch schon gewisse Schwefelgehalte mit in den Keller, was ebenfalls zu einer reduktiveren Entwicklung führen kann. Screwcaps oder andere hochdichte Verschlüsse, der Verzicht auf Abstiche (Umfüllen des Weines zwischen verschiedenen Behältnissen), eine längere Lagerung auf der Hefe und etliche andere Gründe können Ursachen sein. Reduktivität ist also kein prinzipielles Anzeichen für eine hohe Schwefelung, kann aber durchaus auch Ausdruck gezielter Schwefelung sein. Denn die sensorische Auswirkung hängt maßgeblich mit verschiedenen Schwefelverbindungen zusammen.
Aromatisch drückt sich Reduktivität vor allem durch Schwefelwasserstoff und andere Schwefelverbindungen wie Sulfide, Disulfide oder Mercaptane aus, die von der Gärhefe gebildet werden. Je nachdem in welcher Kombination und Ausprägung sie vorkommen, erinnert der Geruch an Feuerstein, gezündete Streichhölzer, Gummi, Kimchi oder Ähnliches. Es prägen sich also Aromen aus, die eher mineralisch, rauchig oder pflanzlich anmuten und teils auch nicht gut riechen können. Bei kontrolliertem, nicht übermäßigem Auftreten dieser Noten verschwinden sie mit zunehmendem Sauerstoffzutritt durch Flaschenreife oder durch Belüftung vor dem Genuss. Ein hartnäckiger »Böckser« wird allerdings nicht mehr verschwinden. Früher bezeichnete man das ganz einfach als Weinfehler. Aber wir leben in wilden Zeiten und erlaubt ist alles, was (irgendwem) Spaß macht. Ausschweife in die Extreme sind doch irgendwie spannend. Mir persönlich ist ein reduktiver »Stinker« allemal lieber und zudem animierender als penetrant-parfümierte Frucht.
Für manche Erzeuger sind ausgeprägte Reduktionsnoten gar zu einer nicht selten gefeierten Signatur geworden. Die Rede ist von Coche-Dury-Reduktion, Stephane-Tissot-Reduktion, Schäfer-Fröhlich-Reduktion oder Schätzel-Reduktion. Es wäre vermessen solchen Winzern handwerkliche Mängel nachzusagen, auch wenn die gesetzliche Weinkontrolle dies hin und wieder tut. Das Gegenteil ist der Fall. Den Wein in eine mehr oder weniger ausgeprägte Form der Reduktion laufen zu lassen und diesen dann auch so zu veröffentlichen ist hier meist geradeheraus Absicht. Wenngleich es nicht immer so einfach unter Kontrolle zu halten ist, macht es dennoch einen Teil der Stilistik im Ausbau oder spezieller geoklimatischer Bedingungen aus. Das Spiel mit der Reduktion ist ein Drahtseilakt, den nur wenige meisterlich beherrschen. Ein bisschen funky darf es ja durchaus sein. Das erhöht die Komplexität und gibt Charakter, genau wie mit flüchtiger Säure. Wenn es zu viel wird sind wir beim Freakstoff. Auch okay, aber halt nicht für jeden.
Wir haben heute eine teils weit auseinander divergierende Wahrnehmung und Bewertung solcher und anderer »alternativer« Weinstilistiken und Aromenausprägungen. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass einige der interessantesten Weine der Welt unter der Kategorie Landwein oder IGP laufen, weil sie (bewusst) gegen Appellations-Statuten oder eine wie auch immer definierte »Typizität« verstoßen. Auch jeder Naturwein-Winzer kann ein Lied davon singen.
Natural Weine sind aromatische Chamäleons. Sie bewegen sich kaleidoskopartig in diesem Spannungsfeld aus Oxidation und Reduktion. Einerseits sind sie auf Grund des weitgehenden Verzichts auf Schwefel aromatisch tendenziell immer auf der oxidativeren, erdigeren, nussigeren, pflanzlicheren Seite unterwegs. Andererseits drückt ihnen auch ein zwingend reduktiver Ausbau seinen Stempel von mineralischen, animalischen und eher elementaren Nuancen auf. Das ist unglaublich spannend und eröffnet völlig neue Aromenwelten und Geschmackseindrücke. Die Glücklichen sind neugierig.