Immer wieder aufs Neue ist die Route durch die Bourgogne-Franche-Comté in den mediterranen Süden Frankreichs ein Fest für die Sinne. Nach einem obligatorischen Pitstop im genialen Bistro-Restaurant Le Soufflot in Meursault, um das Getriebe mit ein paar raren Burgundern zu ölen, geht es nach der Siesta weiter via Autoroute du Soleil. Vorbei an Lyon und Valence, während die mit provencalischer Gelassenheit sinkende Sonne die Welt in den typischen lila-orangenen Schimmer des Midi hüllt.
Die Provence ist die älteste Weinbauregion Frankreichs – und wohl die am meisten unterschätzte. Die gesegnete Lage zwischen Rhônetal, Alpen, Mittelmeer und Italien ist seit Jahrtausenden ein fruchtbarer Garten und heute das Mekka des Rosés. Aber nicht nur…
Nach einer kleinen Pause Gourmande im feinen Restaurant Pollen, das versteckt in Avignons verwinkelter Altstadt liegt, heißt es Bienvenue in den Bouches-du-Rhône. Rund 3000 Sonnenstunden hat das Departement um Aix-en-Provence und Marseille in der Regel auf dem Tacho. Deutschlands sonnenreichste Stadt Freiburg kommt auf 1700. Der Schmelztiegel zwischen Rhônetal und Provence ist eine der wärmsten Regionen Frankreichs.
Bienvenue in den Bouches-du-Rhône
Für Unwissende völlig unvermutet wächst dort in einem Naturschutzgebiet im Schatten des Massif des Alpilles einer der elegantesten und rarsten Weine des Südens. Die bizarr-schönen Kalksteinformationen der Alpillen ragen aus dem Boden wie ein meerloses Korallenriff. Dort, eingebettet in ein Tälchen aus Nadelwäldern, Felsen, Garrigues und kleinen Wasserläufen, liegt die malerische Domaine de Trevallon. Ein für diese Region kühleres, autarkes Fleckchen. Gründer Eloi Dürrbach hat dieses spezielle Terroir den Alpillen quasi abgerungen, vor rund 50 Jahren aus dem Nichts und von Null angelegt. Die Reben sind massale Selektionen der Top-Riege Südfrankreichs: Roussanne von Beaucastel, Grenache von Gauby, Syrah von Chave und Clape. Es gibt keine Klone auf dem Property, das auf kargem Kalksteinfels und rotem Ton steht. Erzeugt wird jährlich nur ein Grand Vin jeweils in Blanc und Rouge.
So schlicht die Domaine von außen wirkt, so nachhaltig wird einem der Kopf verdreht, wenn der erste Fasshahn im Keller aufgeschraubt ist. Ein südfranzösischer Weintempel der Extraklasse, der seine Brüder im Geiste höchstens noch bei Grange des Peres im Languedoc oder bei Gourt de Mautens an der Rhône hat. Trevallons schwer zu beschreibende Verbindung von mediterraner Wildheit, knalltrockener Kalkpower, provencalischem Kräuterfeuerwerk und eigenwilliger Feinheit ergibt – vor allem mit Reife – eine Komplexität, von der man im nördlicheren Burgund nur träumen kann. Tevallons Rouge fühlt sich an wie eine Umarmung von Tyson Fury – urwüchsig, raubeinig und doch irgendwie charmant. Grange des Peres und Trevallon haben neben ihrem Underdog-Kultstatus noch eine traurigere Gemeinsamkeit: die Gründer und Winzer Eloi Dürrbach (Trevallon) und Laurent Vaillé (Grange des Peres) sind 2021 verstorben. In beiden Fällen werden die Domaines glücklicherweise von den Familien weitergeführt – bei Trevallon von der Tochter Ostiane Icard-Dürrbach. Leider sind die Weine beider Domaines so unglaublich rar und gesucht, dass die wenigen Flaschen immer schon in der Subskription verdunsten… a tempo!
Wer sich in den Zauberwald am Fuße der Alpillen aufmacht, sollte neben der Domaine de Trevallon auch unbedingt noch einen Abstecher ins legendäre Hotel-Restaurant L’Ousteau de Baumanière einplanen. Neben dem internationalen Jetset trifft man in der nur 15 Minuten entfernten Genussoase, die jahrzehntelang mit drei Sternen ausgezeichnet war und es seit 2020 wieder ist, auf eine der besten Weinkarten Frankreichs. Mit Grands Crus zurück bis ins 19. Jahrhundert kann man genüsslich ausufern, bis die Bank anruft. Auch in der traumhaften L’Auberge de Saint-Rémy im gleichnamigen, benachbarten Städtchen lässt es sich leben wie ein provenzalischer Gott.
Die Weinorte der Côte d’Azur
Wenn man bei Trevallon startet, kann es ja eigentlich nur bergab gehen… und zwar runter an die Riviera. Vorbei am malerischen Küstenort Cassis, dessen spektakuläre Terrassenlagen die Marsanne-Hochburg sind, ins benachbarte, weniger pittoreske, aber weinbaulich spannendere Bandol. Es ist diskutabel, ob die besten Rosés in Bandol oder Tavel wachsen. Da die beiden Typizitäten so völlig unterschiedlich sind, ist die Frage überflüssig. Indiskutabel ist der kommerziell größere Erfolg der Provence in den letzten Jahren. Der zartfarbigere, blumigere Stil von Bandol hat sogar viele Tavels etwas blasser werden lassen zuletzt – c’est la mode. In Bandol wird überwiegend Mourvèdre angebaut, eine robuste Südrebe mit gewaltiger Struktur, in Tavel hingegen die feineren Grenache und Syrah. Der Charakter der Rosés ist aber paradoxerweise genau umgekehrt. Bandol ist zarter und verspielter, Tavel eher als leichter Rotwein zu verstehen.
Bandol schmiegt sich wie ein Amphitheater in einen Felsrücken hinein. Die Reben stehen windgeschützt, aber sonnenexponiert direkt am Meer. Sie wurzeln in Kalksteinfelsen, die mal lehmiger, mal sandiger durchzogen sind. Die allerbesten roten Bandols sind Weltklasse-Weine und können Jahrzehnte reifen. Auch die besten Rosés müssen nicht zwingend in den ersten zwei, drei Jahren ausgetrunken werden. Winzergenie Michel Tardieu und sein Sohn Bastien haben ihren Wohn- und Hauptsitz, unweit von Trevallon, im Norden der Provence. Der umtriebige Edelnegociant erzeugt Weine aus der gesamten Mediteranée von der Côte-Rôtie bei Lyon bis nach Bandol, wo die Reben fast im Mittelmeer stehen. Tardieus Bandol Rouge ist eine Blaupause für die Größe dieser Weine: dicht, samtig, beerig, voluminös, mit überwältigendem Tanninreichtum, der die Zunge für Minuten mit Kalkstein tapeziert. Neuerdings endlich auch bei uns im Sortiment, zurecht kultig und leider rar: der Bandol Rosé der Domaine de Tempier – einer der großartigsten der Welt! Der 1942er Tempier Rosé war im Oktober 1943 einer der ersten in Flaschen gefüllten Bandols. Vier Wochen später begannen die Alliierten die besetzte Stadt Toulon, sowie die umliegenden Küstenorte zu bombardieren und die Befreiung Frankreichs begann. Erst in den Nachkriegsjahren folgte dann der erste Rotwein bei Tempier. Schon damals galt: Rosé first!
Der dritte Star des Hafenstädtchens Bandol ist Château de Pibarnon. Henri de Saint Victor betreibt hier in den höchstgelegenen Weinbergen des Ortes, die sein Château arrondieren, einen kompromisslosen biodynamischen Anbau ganz ohne Nachbarn. Wie Tempier ist Pibarnon eher auf der Finesseseite unterwegs, alleine schon durch die Hochlage. Dennoch ist Pibarnon ein wenig kräftiger als Tempier, dunkler in der Farbe und etwas eigenwilliger in seiner Würze. Probieren Sie mal den etwas wilderen, hälftig in Amphoren ausgebauten Rosé Nuances oder den faszinierenden Weißwein, der auf seltenem blauem Lehm wächst – wie Château Petrus in Pomerol!
Das Hügelland der Côtes de Provence
Von den kleinen Orts-Appellationen kommend, ist die wilde Weite des unglaublich diversen Terroirs der Côtes de Provence ein wahres Mekka für Entdecker. Zwar ist das Gros der hiesigen Weine weiterhin eher als netter Terrassenwein zu verstehen, aber wer sucht, der findet… und zwar teils wahnsinnig ambitionierte Winzer und deren fantastischen Stoff. Der Roséanteil in den Côtes de Provence liegt heute bei über 90 Prozent. Der Fokus ist klar. Die Region zieht sich von Cassis im Westen die Côte d’Azur entlang gen Osten bis kurz vor Cannes. Sie reicht aber im Norden auch bis in die Seealpen mit ihren Bergstädtchen wie Draguignan. Von Küsten- bis Berglage ist also alles dabei. Die Lesezeitpunkte können innerhalb der Appellation sechs bis acht Wochen auseinanderliegen. Norden und Westen der Appellation sind von Kalkstein dominiert, der teils von den Gebirgszügen im Inland erodiert ist, teils von Überresten eines Urmeers stammt. Der Osten der Region ist mehr von Vulkangesteinen geprägt. Sand, Ton und Lehm, meist eisenhaltig, spielen auch immer mit und beeinflussen die Charaktere der Weine ebenso wie das Muttergestein. DIE Typizität für Côtes de Provence gibt es nicht. Ein bisschen Orientierung schafft da die Klassifizierung der Cru Classés? Jein…
Die ehemals 23 historischen Cru Classés der Provence wurden 1955 festgesetzt, also genau 100 Jahre nach der Klassifizierung des Médoc. Heute existieren davon noch 18. Die Idee war Ende des 19. Jahrhunderts eine gemeinsame Vermarktung und ein einheitlicher Qualitätsstandard, der nur bestimmte Rebsorten zuließ, einen Ausbau von mindestens 18 Monaten vorschrieb und nur Domaine-Abfüllungen erlaubte. Zudem musste die Alterungsfähigkeit der Weine in einer mehrjährigen Verkostung nachgewiesen werden. Langer Holzausbau war unter den Cru Classés damals sehr üblich. Nicht verwunderlich, dass die Crus überwiegend aus Familiendomaines mit glorreicher Abstammung von Adel und Kirche bestanden, deren stattliche Anwesen sich diese Standards schon damals erlauben konnten. 1947 stand die Auswahl und acht Jahre später wurde sie in Stein gemeißelt. Seitdem ist sie unverändert und unveränderlich. Es können keine neuen Cru Classés dazukommen. Die Klassierung gilt den Weingütern, bzw. den Inhabergesellschaften, nicht dem Terroir, einer Qualitätsstufe oder den Weinbergen. Alle Weine der klassifizierten Güter sind Cru Classé, solange es Domaine-Weine sind. Zukauf geht nicht. Gewissermaßen erstaunlich – aber im Bordelais ja auch nicht anders – ist, dass die Klassifizierung auch heute noch in weiten Teilen treffend ist. Unter den 18 Cru Classés befinden sich viele der heutigen Top-Domaines, aber natürlich nicht alle und nicht alle Crus erfüllen heute den Premiumanspruch. Weinbaulich und qualitativ gelten für die Cru Classés auch keine strengeren Regeln als für die ganze Appellation Côte de Provence. Die Auszeichnung ist also mehr historische Anerkennung einer Vorreiterrolle als Qualitätsmerkmal der Moderne – auch wenn sich eben noch immer viele der Diamanten unter den Crus befinden.
Eine ganz eigene Welt betritt man bei Clos Cibonne in Le Pradet, das östlich von Bandol, in der Peripherie der Küstenstadt Hyères liegt. Auf Clos Cibonne, einem der historischen Cru Classés der Provence, ist alles anders und doch nichts neu. Im Ozean der einfachen und fruchtigen Rosés der Region hebt sich Cibonne hervor wie ein Fels in der Brandung. Hier folgt man keinen schnelllebigen Konsumtrends, sondern vertraut auf einen heute fast vergessenen Ureinwohner: Tibourén. Die ansonsten fast ausgestorbene autochthone Rebsorte des Departement Var ist so stark mit der ikonischen Domaine verknüpft, dass sie per Ausnahmedekret der INAO sogar auf dem Frontlabel stehen darf. Eigentlich ein No-Go im Appellationssystem der Provence. Das ulkige Label war bei seiner Einführung (vor rund 100 Jahren) hochmodern, versichert mir Inhaber Claude Desforges. Never change a winning team. Das gilt dann wohl auch für die riesigen, noch in Gebrauch befindlichen Fuderfässer, die ungefähr aus derselben Zeit stammen wie das Label. Tibourén ist eine Diva: krankheitsanfällig, leicht verrieselnd und schwankend im Ertrag. Sie hat eine für Südtrauben eher delikate Struktur mit intensivem, sauerkirschig-floralem Aroma. Das alles erinnert schon an Pinot Noir. Tatsächlich hat Tibourén viele Gemeinsamkeiten mit dem nördlichen Nachbarn. Gepaart mit einem meisterlichen Holzausbau macht der Anteil von meist um die 90 Prozent Tibourén Cibonnes Weine ziemlich unique. Immer zu den Klassenbesten der Provence zählt die Basis-Cuvée Tradition, zum Niederknien ist mit Reife Cuvée Caroline. Das ist next level-Rosé aus der Vergangenheit.
Einen ähnlichen Ansatz (Tibourénanteil, Holzausbau) unter völlig anderen Voraussetzungen findet man heute auch auf Château Galoupet, ebenfalls ein Cru Classé, das seit einigen Jahren zur LVMH-Gruppe gehört. Über Investoren kann man in der Weinbranche streiten wie im Fußball, eines aber ist unbestritten: die Qualität der ersten Releases von Galoupet sind sooo viel besser als das was zuvor von der indischen Besitzerfamilie unter dem Label dieses Anwesens abgefüllt wurde. Know-How und Anspruch ans Terroir, das fast direkt ans Meer grenzt, ist mit dem neuen Team um Welten höher.
Unter anfänglicher Leitung von Jessica Yulmi, die von Champagne Krug kam, ist Galoupet auf rund 70 Hektar Land ein progressives Nachhaltigkeitsprojekt geworden. 100 Prozent biologische Bewirtschaftung, Weideflächen, Bienenstöcke, Aufforstung und Renaturierungsflächen rund um die Weinlagen. Château Cheval Blanc aus St.-Emilion steht beratend zur Seite, so werden auch bald Fruchtbäume und andere Ökosysteme mitten zwischen den Reben angesiedelt. Zum ganzheitlichen Ansatz zählt eine CO2-neutrale Produktion mit Wasserreservoirs, Solaranlagen und Elektrofahrzeugen. Work in progress. Aktuell ist nur ein Bruchteil des Châteaus in Ertrag, Fokus auf die besten Parzellen. Das bedeutet Verzicht auf Menge, aber maximale Qualität von Anfang an. Zudem steht Galoupet auf eisenhaltigem Lehm und Schiefer, nicht wie Bandol und Co. auf Kalkstein, das gibt dem ganzen einen interessanten Twist in der Textur. Wir haben in 2023 nochmal Galoupet 2021 nachgekauft, um das Reife-Potenzial des Grand Vin zeigen zu können. Mit den Jahren geht die Frucht mehr in maritim-kräutrige Nuancen über, aber das Leben der Weine verblasst keineswegs. Mal ein paar Jahre im Keller vergessen und dann neben eine schöne Rotbarbe vom Grill gestellt... la vie en rosé!
Erstaunlicherweise werden nur wenige Roséweine aus der Provence in dunkle Flaschen abgefüllt. Wenn man aber die Alterungsfähigkeit des Rosés ernst nimmt, sollte man die Verwendung von dunklen Glasflaschen in Betracht ziehen, da sie die Lebensdauer des Weins verlängern und ihn vor Lichteinfall schützen. Die wenigen Ausnahmen unter den Cru Classé-Gütern sind Clos Cibonne, Château Galoupet und die Spitzenweine von Château St-Martin und Château St-Maur.
– Elizabeth Gabay MW, Decanter
Ebenso beeindruckend, wenngleich aus einem ganz anderen Grund: Château d’Esclans. So viel Hightech habe ich in der Provence noch in keinem Weingut gesehen. Das Anwesen liegt im östlichen Hinterland der Region Var. Das Terroir ist noch waldiger und teils Wochen später reifend als die Küstenorte, da es viel höher und entsprechend kühler ist. Hier ist der alpine Einfluss der Seealpen schon deutlich spürbar. Auch an diesem prunkvollen Schloss ist LVMH beteiligt, geführt wird es aber weiterhin vom Gründer und Teilhaber Sascha Lichine. Beim ein oder anderen mag es nun klingeln: ja, Lichine wie in Château Prieuré-Lichine, Margaux. Als der Vater verstarb, führte Sascha den 4eme Cru noch zehn Jahre weiter, entschloss sich dann 1999 aber zu verkaufen. Der Erlös aus dem berühmten Château beflügelte ihn, die Küstenseite zu wechseln und sich in der Provence zu verwirklichen. Sein Ziel damals wie heute: Weltklasse-Rosé erzeugen. Mit dem Know-How, der Technik und dem Kapital eines Bordelaisers, schuf er unter anderem Whispering Angel, Château d’Esclans und Garrus, die allesamt sagenhafte kommerzielle Erfolge wurden – in den USA und UK noch viel mehr als in Deutschland. Sein Garrus ist seit den Anfängen und bis heute einer der teuersten Rosés der Welt. Er wird größtenteils aus einem über 100-jährigen Grenache-Weinberg geerntet und in neuen 600-Liter-Fässern vergoren und ausgebaut. Eine luxuriöse, seidig-opulente Textur zeichnet ihn aus. Mir persönlich hat er immer einen Touch zu viel Holz, aber das legt sich mit Reife etwas und Sascha ist heute feiner mit dem Holzeinsatz geworden. Kein geringerer als Patrick Léon, der berüchtigte Winemaker von Mouton-Rothschild, ist Consultant bei d’Esclans. Er hat den Vinifikationsprozess von der Handlese in 10 kg-Kisten, die über eine Million Euro teure Laser-Sortiermaschine und die wahnwitzige Geschwindigkeit bei der Traubenverarbeitung angeordnet. Und weil doppelt besser hält, steht hinter der ersten optischen Sortiermaschine gleich noch eine zweite, damit auch wirklich nichts schief geht. Und vor allem: rapide, s’il-vous-plaît! Bordelaiser Perfektion statt provenzalisches Laissez-faire.
Für den alltäglichen Genuss haben wir unseren Klassiker AIX von Saint Aix im Programm. Großes Terroir, Holzausbau oder Reifefähigkeit spielen da keine Rolle. Einschenken, zurücklehnen und die Provence zu Hause genießen. Geht immer, schmeckt immer – das ist ja auch eine nicht zu verachtende Qualität. Doch wer ein bisschen tiefer in die Region einsteigt und auch die Geduld aufbringt, mal ein bisschen mit der Reife zu spielen, findet im paradiesischen Süden, was viele gar nicht auf dem Schirm haben: einige der großen Weine der Welt.
2022 war ein Millésime solaire, wie die Winzer sagen. Klingt fast witzig in der Provence… als wäre das nicht quasi jeder Jahrgang hier. Jahrgang der Gluthitze trifft es besser. Denn auch in der Provence war 2022 brutal heiß und stellenweise dramatisch trocken. Für Michel Chapoutier, der von der Rhône über die Provence bis nach Australien Wein erzeugt, war 2022 das Jahr ohne Jahreszeiten. Herbst und Winter von 2021 auf 2022 waren quasi eins, mit konstanten Durchschnittstemperaturen um die 11 Grad ging es ohne Schwankungen direkt ins Frühjahr. Ende März dann ein Kälteschock – wie im dramatischen Vorjahr – mit Frost bis minus sechs Grad. Aufgrund der herben Verluste 2021 waren aber viele Winzer vorsichtig und haben den Rebschnitt sehr lange hinausgezögert in 2022, was größere Verluste verhinderte. Der Sommer war von Hitzespitzen und extensiver Trockenheit geprägt – es gab nur rund 135mm Niederschlag von Januar bis Ende Juli (230 mm total). Selbst die an Trockenheit gewohnten Rebsorten wie Mourvèdre und Grenache kamen da ins Schwitzen, alte Reben und jene auf lehmig-tonigen Standorten kämpften sich aber relativ unbeschadet durch den Sommer. Die Véraison startete erst Anfang August. Ein Zeichen für die verzögernde Wirkung der Trockenheit. Zu diesem Zeitpunkt setzten auch endlich partielle Regenfälle ein, die den Reben dann den finalen Kick zur Reife gaben und den Jahrgang vor einer Katastrophe retteten. In der dritten, vierten August startete die Lese für die meisten Domaines, also relativ früh, aber nicht superfrüh. Manche ernteten bis Ende September, je nach Lage. Wie im Bordelais auf der anderen Küstenseite, ist 2022 eine riesige Überraschung. Man erwartet überreife Monstertruck-Weine, die einen komplett überfahren mit Wucht und Härte – und wird dann von großer Feinheit und fantastischer Frische überrascht. Selbst die erfahrensten Winzer sind verblüfft von diesem Jahrgang. Die Frucht ist total reif, samtig-dicht und opulent, aber absolut nicht überreif oder gekocht. Die Weine zeigen in Weiß, Rot und Rosé eine brillante, harmonische Säure, kristallklare Mineralität und Massen an butterweichen Tanninen. Es ist ein Benchmark-Jahr, das die Güte des Terroirs und das Handwerk der Winzer glasklar abbildet, deshalb gibt es ebenso viele sehr schwierige Weine. Selektives Kaufen ist unvermeidlich in 2022. Die besten Weine sind monumental gut und für die Ewigkeit gebaut, erinnern an große Jahre Südfrankreichs wie 1990 oder 1978.