Es ist ein warmer, sonniger Frühlingstag im Rheingau. Die Natur erwacht langsam, aber sicher aus dem Winterschlaf. In den Ortschaften der Region herrscht indes ungewohnter Stillstand – Lockdown. Auch Rüdesheim ist in diesen Zeiten wie verwandelt. Wo normalerweise tausende Touristen die Gassen säumen, herrscht jetzt eine merkwürdige Stille. Oberhalb der Stadt, im Rüdesheimer Berg, kann man immer wunderbar Abstand von all dem Trubel gewinnen, der sich sonst unten im Ort abspielt. Hier ist man meist für sich, zusammen mit der Luft, dem Wind und den Reben.
Aber in diesen Zeiten ist eben doch alles ein wenig anders. Viel mehr als sonst nimmt man in den Rheingauer Weinbergen die Kraft der Natur wahr, die plötzliche Explosion, wenn alles wie verrückt austreibt und blüht. So unnormal die Zeiten unten in Rüdesheim, so normal ist der Lauf der Natur oben in den Weinlagen: Auch dieses Jahr werden die Reben sicher wieder goldgelbe Trauben tragen, die elegante, saftige, vibrierende Rieslinge bringen. Genau dafür pilgern Jahr für Jahr Weinliebhaber aus der ganzen Welt in den Rheingau.
Herzkammer des Rieslings
Hier hat Riesling den Weltruhm erlangt, der ihn lange Zeit begleitet hat. Schwindelig kann es einem werden, wenn man Weinkarten aus der Zeit um 1900 liest. Deutscher Riesling wurde gleich neben den besten Weinen aus Bordeaux und der Champagne gelistet, teils sogar teurer verkauft. Einzigartig war schon damals sein feiner, eleganter, geradezu schwebender Stil. Am Rhein und seinen Nebenflüssen fühlt sich Riesling seit Jahrhunderten wohl, findet ideales Terroir für seine hohen Ansprüche. »Alteingesessen« ist er bei uns, »autochthon« (altgriechisch autós = selbst und chtón =Erde), also »am Fundort vorkommend«, denn seine Herkunft aus dem Rheintal gilt als gesichert.
Trumpf in der Hinterhand des deutschen Weinbaus
Auch wenn Riesling mittlerweile weltweit kultiviert wird – zu einem richtigen Exportschlager ist die Rebsorte nicht geworden. Rund 40 Prozent (ca. 24.000 Hektar) der weltweiten Riesling-Fläche bewirtschaften deutsche Weingüter. Unerreicht, ja geradezu unkopierbar, ist die Feinheit der Rebsorte in unserem kühlen Klima. Damit ist Riesling ein echter Trumpf in der Hinterhand eines Weinlands, das sich in den vergangenen Jahrzehnten in Sachen Rebsorten nicht gerade mit Ruhm bekleckert hat. Etliche alte Sorten sind hierzulande nahezu in Vergessenheit geraten, mit dem Heunisch auch ein Elternteil des Rieslings. Lokale autochthone Spezialitäten, wie der Elbling oder der Tauberschwarz, verlieren weiter an Bedeutung. Damit steht Deutschland auf dem Gebiet der heimischen Rebsorten deutlich im Schatten südeuropäischer Länder wie Frankreich und Italien, wo fast jede Region auf eine Vielzahl autochthoner Sorte zurückgreifen kann. In Deutschland wurden in der Vergangenheit Herkünften keine Beachtung geschenkt, zu viele unbedeutsame Neuzüchtungen wurden auf den Markt geworfen, zu sehr wurde auf Masse statt auf Klasse gesetzt. Ganz allein kann der Riesling das Zepter der deutschen autochthonen Rebsorten aber nicht für sich beanspruchen…
Die Silvaner-Story
Ortswechsel. Etwa 20 Kilometer südöstlich von Würzburg stehen im kleinen Weinort Sulzfeld am Main ein paar ganz besondere Rebstöcke. Im uralten Gewann »Creutz«, einem Teil des Sulzfelder Sonnenbergs, bewirtschaftet das Weingut Luckert wurzelechte Silvanerreben, die 1870 gepflanzt wurden. Jedes Jahr werden aus den wenigen Träubchen gerade einmal zwischen 500 und 600 Flaschen Wein gemacht. Hier wird erlebbar, wie Silvaner früher einmal geschmeckt haben muss. Schon 1659 wurde die Sorte in Deutschland das erste Mal gepflanzt, damals in Castell bei Würzburg. Ursprünglich stammt der Silvaner aus dem Alpenraum, lange wurde die natürliche Kreuzung aus Traminer und Österreichisch Weiß schlicht »Österreicher« genannt. Nur in Deutschland hat der Silvaner so richtig Karriere gemacht und gilt trotz anderer Herkunft als autochthone Sorte. Knapp 5.000 Hektar sind in Deutschland mit Silvaner bestockt, die meisten Reben stehen in Rheinhessen, wo die Sorte ebenfalls schon lange kultiviert wird und sich heute bei Winzern wie Michael Teschke, Schätzel oder Gunderloch von ihrer besten Seite zeigt.
Renaissance einer Rebsorte
Generell erlebt der Silvaner momentan eine Renaissance. Nachdem er bis in die 1970er Jahre noch die meistangebaute Rebsorte in Deutschland war, musste er anschließend immer mehr Fläche an ertragreichere Sorten wie den Müller-Thurgau abtreten. Qualitativ hat Silvaner in diesem Duell jedoch klar die Nase vorn. Und so entstehen in Franken etwa bei Horst und Sandra Sauer, Rudolf May und den Luckerts fantastische Silvaner, die den Vergleich mit den besten deutschen Rieslingen nicht scheuen müssen. Dabei hat die Sorte immer ihre eigene verspielte Art, ist meist etwas krautwürziger und erdiger.
Als die Mönche den Pinot Noir brachten
Zurück im Rheingau erreicht die Sonne langsam ihren höchsten Punkt. Für diese Jahreszeit bringt sie schon einiges an Wärme in die Weinberge, alles heizt sich auf, es riecht nach Blüten und Gras. Vom Rüdesheimer Berg hat man einen herrlichen Blick auf Bingen und die Mündung der Nahe. Hier wird Terroir sichtbar: das dunkle, gräuliche Rheinwasser trifft auf das bräunliche, sandige Wasser der Nahe. Erst einige hundert Meter flussabwärts, schon fast im Mittelrheintal, vermischen sich beide Flüsse endgültig. Dort angekommen ändert der Rheingau sein Erscheinungsbild: Schiefer dominiert im verschlafenen Assmannshausen die Böden, Spätburgunder ist hier der unangefochtene Platzhirsch in den Weinbergen, allen voran im legendären Höllenberg. Hier hat die Sorte ein Zuhause gefunden, und das schon vor mehreren hundert Jahren. Im 13. Jahrhundert brachten Zisterziensermönche den Spätburgunder (Pinot Noir) aus dem Burgund in den Rheingau, wo er zunächst im Hattenheimer Steinberg und dann im Assmannshäuser Höllenberg gepflanzt wurde.
Es ist immer wieder erstaunlich, welch eigenen Charakter der Spätburgunder im Höllenberg entwickelt. Schiefer und Spätburgunder – eine geniale Kombination. Mit ihrer ätherischen Cassis-Note sind die Pinots aus der Schiefer-Steillage mit nichts vergleichbar, schon gar nicht mit den Weinen der Côte d´Or. Eine lange Historie und ein unverwechselbarer Charakter – auch wenn das Burgund die Heimat des Pinot Noir ist, so hat er doch seit Jahrhunderten einen festen Platz in der Seele des deutschen Weinbaus, nicht nur im Rheingau.
Typischer Südwesten: Lemberger und Gutedel
Ihren Ursprung verlassen und in Deutschland Wurzeln geschlagen haben auch andere Rebsorten: Fest verankert in der schwäbischen Wein-Seele ist der Lemberger, der aus dem nordöstlichen Slowenien stammt. Über Österreich fand die Sorte im 19. Jahrhundert nach Württemberg, wo sie heute mehr denn je zeigt, welch grandiose Rotweine sie hervorbringen kann. Und das nicht nur in den Parade-Lagen rund um Stuttgart, wie dem Fellbacher Lämmler, sondern auch in uralten Terrassenlagen am Neckar, wo Stefanie und Fabian Lassak den Lemberger so herrlich ungeschminkt und modern interpretieren.
Aber auch die Badener haben ihrerseits ein Ass im Ärmel. Langweilig und ausdruckslos war gestern: heute ist der Gutedel, dessen Herkunft bisher nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte, ein echter Shootingstar im Markgräflerland, was vor allem der Arbeit von Hans-Peter Ziereisen zu verdanken ist. Mit dem Motto »Make Gutedel Great Again« hat er der Rebsorte in ganz neues Gesicht verliehen: anspruchsvoll, spannungsgeladen und polarisierend.
Im Rüdesheimer Berg reflektiert der Rhein mittlerweile die letzten Sonnenstrahlen auf die Ruine der Burg Ehrenfels inmitten des Berg Schlossberg. Bald wird Sommer sein. Hoffentlich kehrt dann endlich wieder der Trubel in die Gassen der Weinorte zurück, denn letztlich ist es doch am schönsten, die deutschen Wein-Delikatessen mit Menschen aus der ganzen Welt zu teilen.