Es ist das letzte August-Wochenende, an dem traditionell die Vorpremiere der VDP Großen Gewächse stattfindet. Das heißt, von Sonntag bis Dienstag kommen drei Tage Verkostungsmarathon auf mich zu. Über 450 Weine von der Winzer*innen-Elite Deutschlands. Ich sitze bereits am Samstagmorgen, den 24. August, um 6:44 im ICE nach Wiesbaden und kann dennoch quasi nicht müde sein. Zu viel Vorfreude auf das, was mich schon vor der großen Premiere erwartet, hemmt den Melatonin-Spiegel. In meinem E-Mail-Postfach befindet sich nämlich die Einladung zu einer der exklusivsten Riesling-Proben überhaupt – zehn Jahrgänge Morstein, Idig und Kastanienbusch. Drei der größten Grand Crus des Landes von dreien meiner absoluten Lieblingsweingüter. Gibt’s was Besseres?
Nur alle fünf Jahre findet diese Retrospektive statt, zu der neben ausgewählten Händlern auch Journalisten und Kritiker aus aller Welt geladen sind. Die Verkostung ist dabei aber alles andere als elitär, sondern hat vielmehr den Charakter eines großen Familientreffens. Die drei Weingüter Wittmann, Rebholz und Christmann vereint eine jahrelange Freundschaft. Als ehemalige Mitglieder des »Comitée Erstes Gewächs«, gelten sie als Wegbereiter des heutigen Großen Gewächs und sind außerdem allesamt Mitglied im Biodyn-Verband »Respekt«. Mit dem Jahrgang 1999 beginnend, fand die erste Verkostung 2009 statt. Dieses Mal steht die Vertikale von 2014 bis 2023 auf dem Plan und damit teilweise auch ein Generations- und Stilwechsel bei den Weingütern. Eine einmalige Gelegenheit und außerdem die perfekte Einstimmung auf die kommenden Tage. Wie wird sich 2023 im direkten Vergleich mit neun weiteren Vorjahren zeigen?
Im ersten Flight stehen zehn Jahrgänge aus dem Birkweiler Kastanienbusch auf dem Tisch. Die wahrscheinlich berühmteste und beste Rieslinglage der Südpfalz, die sich durch ihren, insbesondere in der Pfalz, sehr selten vorkommenden Boden auszeichnet. Das sogenannte »Rotliegende« ist eine Schieferformation, die durch den hohen Eisengehalt im Boden ihre rötliche Färbung erhält und für die ganz charakteristische Würze im Wein sorgt. Neben Jahrgangsunterschieden, ist bei Rebholz vor allem auch der Generationswechsel spannend. Für die ersten fünf Weine war Vater Hansjörg verantwortlich, ab Jahrgang 2019 dann seine beiden Söhne Hans und Valentin.
Wunderbar offen, aber gänzlich verschieden in ihrer Charakteristik, zeigen sich 2014 und 2015 im direkten Vergleich. Beide Weine haben kaum oder nur angedeutete Reife in der Nase, im Mund hat 2014 dann eine irre Dramatik und Zug. 2015 strahlt hingegen viel mehr Wärme aus, ist einnehmend und charmant. Ähnlich wie 2018, aber mit einem Kick mehr an Frische und Druck.
Die absolute Perfektion in Sachen Balance erreicht aktuell 2016. Fast ein wenig zart in seiner ultraklaren Finesse, noch sehr jugendliche, zurückhaltende Nase mit weißen Blüten, weißem Tee, ein wenig rote Beeren sogar. Viel weißfleischige Frucht insgesamt, alles wirkt erstaunlich hell und beeindruckt in seiner Klarheit. Ein total elegantes Jahr, irgendwo zwischen 14 und 15 angesiedelt, weil der Wein einerseits Gelassenheit mit sich bringt, aber doch auch eine gewisse Spannung, wie man sie im 14er findet. Ein kompletter Wein und ein Langstreckenläufer allemal.
Sehr einzigartig und herausstechend sind 2017 und 2021 in ihrer Stilistik. 2017 viel dunkler als 2016. Zerstoßenes Gestein, etwas Kräuteröl, heller Tabak, Quittenschale. Alles rauchig umrahmt. Geniale Tiefe, sehr beeindruckend. Am Gaumen fest und strukturiert mit griffigen Gerbstoffen, die Säurestruktur bindet sich nahtlos in alles ein. Geniale Länge und mit viel Potenzial. 2021 kommt zwar nicht mehr ganz so zugenagelt daher wie im jungen Stadium, aber dennoch wild und straight mit Noten von grüner Traube und Granny Smith, weißer Johannisbeere, sehr kühl untermalt mit Bergminze. Irre Säurestruktur, die die Augen schmal werden lässt. Vibrierend und zupackend, enorm hohe Pikanz. 2021 ist und bleibt ein extremer Jahrgang, der aber ewig halten wird.
Als absoluter »Endgegner« entpuppt sich der Jahrgang 2019. Ist das der Überjahrgang schlechthin?! Auch jetzt ist dieser Wein gefühlt immer noch ein Baby. Diese dichte und unterschwellige Kraft kommt schon in der Nase rüber. Total klare, aber rauchig unterlegte Frucht von reifer Limette, ein bisschen Bergamotte, Zitronengras und Koriandersamen. Am Gaumen mit ordentlich Druck und irrem Zug. Brillante, krachende Mineralität. Präsente, aber total reife, abgeschliffene Säure. Dass die Säure so gut integriert ist, ist eigentlich das einzige Anzeichen für das Alter des Weins. Ansonsten bitte auch gern für weitere Jahre im Keller vergessen und lieber 2020 oder in zwei bis drei Jahren gern auch schon 2022 antrinken, die sich momentan wunderbar fein ausbalanciert präsentieren.
Der aktuelle Jahrgang 2023 ist verschlossen, der Wein noch etwas versteckt hinter seiner reduktiven, rauchigen Art. Angeflämmte Kräuter, etwas Salbei, Orangenschalen und Salzzitrone. Im Mund noch kaum greifbar, sehr kompakt und mit irrer Spannung. Konzentration, aber ohne jegliches Fett. Ein embryonales GG, aber diese Struktur ähnelt 2019 oder 2001, dieser Jahrgang hat insgesamt sogar einen Hauch mehr Dramatik. Ich bin mir sicher – das hier wird mal ganz groß!
Der Idig liegt in Königsbach und ist sicher DER Grand Cru schlechthin in der südlichen Mittelhaardt. Die Lage ist zum einen deutlich flacher als der Kastanienbusch, aber der Hauptunterschied sind die sehr kalkhaltigen Böden hier. Ein mächtiges Kalksteinmassiv mit einer Auflage aus Lehm und Ton, ergibt eine ähnliche Bodenstruktur wie im Burgund. Die Familie Christmann hat hier einen Monopolartigen Besitz und bewirtschaftet die Lage seit über zwanzig Jahren biodynamisch. Im Gegensatz zu Rebholz, die gern mit Maischestandzeit arbeiten, werden die Trauben bei Christmann als Ganztraube direkt abgepresst. Eine ganze andere Herangehensweise und völlig anderes Terroir, aber erstaunlicherweise gibt es hier dennoch viele Jahrgangsparallelen.
Allen, die gegenüber 2014 negative Vorurteile hatten oder haben, sollte man mal ein Glas von diesem fantastischen Gegenbeispiel einschenken. Allein die Nase zieht einen schon in den Bann! Erstaunlich jung mit Noten von grünem Apfel, auf Kalk gerollter Limette, Zitronenschale und Jod. Am Gaumen total geradeauslaufend mit einer Säurestruktur, die einen fast aus den Schuhen haut. Auf seine Art ein Extremist und Parallelen zu 2017 aufweisend, wenn auch nicht ganz so ultraklar und präzise wie 2021, der vermutlich erst in zehn Jahren so richtig zeigen wird, was er kann.
Wunderschön trinkreif und mit charmantem Fruchtdruck, strahlt der 2015er Idig aus dem Glas. Man wird quasi umarmt von reifer Marille, einem Hauch Zitronencreme und warmer Steinigkeit. Total geschliffen, saftig und von burgundischer Textur. Das komplette Kontrastprogramm zu den zuvor genannten Weinen. Ebenso 2018 und 2020, die unaufgeregt und einladend daherkommen und einfach jetzt schon unfassbar viel Freude bereiten.
Auch beim Idig ist 2016 aktuell einfach der schönste Jahrgang der gesamten Reihe. Nicht der konzentrierteste, aber momentan vielleicht der feinste. Zeigt eine kalkige Eleganz, wie man sie sonst von großen Burgundern kennt. Viel nasser Stein, Gesteinsmehl und reife Zitrusfrucht in der Nase. Alles umrahmt von zart rauchigen Anklängen. Die totale Finesse, voll auf salziger Mineralität laufend. Im Grunde der charmantere 2019er, der jetzt noch irre fest und wie vernagelt daherkommt, dabei aber eine unglaubliche Erhabenheit ausstrahlt. Wow, auch beim Idig ist 2019 ein Hammerwein, der alle anderen Jahrgänge toppt. Engmaschig und vibrierend druckvoll. Offenbart kaum Frucht. Ein reiner Steinwein von wirklicher Größe, gemacht für die Ewigkeit.
Ähnliche Anlagen zeigt allerdings auch der 2023er, der alles hat, was einen Riesling nahe der Perfektion ausmacht. Steffen und Sophie Christmann schaffen hier den perfekten Spagat zwischen griffiger Textur, präsenter, aber geschliffener Säure und zarter Frucht. Die Struktur und Länge sind beachtlich und versprechen ein langes Leben.
Wir beginnen wieder mit zwei Jahrgängen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Im Vergleich zu den beiden vorherigen 2014ern, ist der Morstein aktuell in einer verschlossenen Phase, präsentiert sich eher in nobler Zurückhaltung. Daneben drängt sich der 2015er quasi nur so auf, drückt sich förmlich aus dem Glas mit kraftvoller, satter Frucht. Wow, was für eine irre Power auch am Gaumen! Saftige Frucht trifft auf burgundischen Schmelz, ein Gerüst aus brillanter Säure hält alles zusammen. 2015 ist jetzt perfekt und ein archetypischer Morstein, für mich in dieser Probe sogar leicht vor dem Finesse-Jahrgang 2016, da er einfach noch etwas beeindruckender ist. 2016 kommt dann eher auf leiseren Sohlen daher, tänzelt mit seiner zarten, weißfleischigen Frucht nur so über die Zunge und hinterlässt dabei eine Spur aus kalkiger Mineralität. Puristisch und einfach unglaublich fein zugleich.
Last but not least – der Wein von Gastgeber Philipp Wittmann. Zehn Jahrgänge Morstein gibt es zum krönenden Abschluss. Die älteste, urkundlich erwähnte Lage in Westhofen und traditionell die renommierteste Lage im Ort. Ein reiner Südhang, geprägt von tonhaltigem Mergel und viel Kalkstein, von der Bodenbeschaffenheit dem Idig also gar nicht unähnlich. Westhofen liegt aber ja bekanntlich etwas weiter nördlich, der Morstein liegt außerdem etwas höher als der Idig. Diese Kombination – Südlage mit kühlen Einflüssen – führt zu einer relativ späten Lese und im Ergebnis zu einem kühlen und gleichzeitig kraftvollen Weintyp. Jahr für Jahr zählt Wittmanns Morstein zu den besten und gesuchtesten GG und die Gelegenheit mal zehn Jahrgänge nebeneinander zu verkosten, ergibt sich wirklich nicht häufig.
Eine sehr schicke Exotik gibt den Ton im 2017er Morstein an, der Noten von Grapefruit, gelber Kiwi, Passionsfrucht und weißem Tee zeigt. Hat jetzt ein sehr schönes Level erreicht, ist weniger fordernd als Idig oder Kastanienbusch aus dem gleichen Jahr. Die Frucht wird dabei von einer zupackenden Säureader in Länge getragen. Im direkten Vergleich definiert sich der wärmere 2018er dann vielmehr über ein Gerüst aus zupackenden, griffigen Gerbstoffen. Strukturgebende Mineralität und reife Frucht bilden eine großartige Harmonie. Ich bin sogar ein wenig überrascht von dieser Tiefe und Definition.
Was schon die beiden Pfälzer zuvor angedeutet hatten, untermauert der Morstein noch einmal eindrücklich – 2019 ist groß, und zwar ganz groß! Die Nase lässt erahnen, was hier für ein Monster schlummert. Irre Tiefe, was für eine geballte Kraft aus Mineralität, zwischen dunklem und hellem Gestein changierend. Austernschale, Jod, zarte Feuersteinnoten und reife Zitrusfrucht. Irre Komplexität und Tiefe, enorm engmaschig. Druckvolle Salzigkeit benetzt den ganzen Mundraum, alles vibriert, diese Spannung ist unglaublich! Steht noch ewig am Gaumen. Ein vollendeter Riesling, eine Legende in der Mache und immer noch unfassbar jung.
Ebenfalls, wie bei Rebholz und Christmann, zeigt sich der 2020er momentan zurückhaltend, besticht durch Feinheit und Balance. Total reintönige, elegante Pfirsichfrucht, untermalt von milden Kalksteinnoten. Trinkt sich jetzt absolut hervorragend, wird aber auch zeitlos altern. Eine sichere Bank. Nicht aufregend, aber einfach hinreißend schön. 2022 schlägt stilistisch in eine ähnliche Kerbe, hat aber noch etwas mehr Biss und wirkt verschlossener.
Morstein 2021 ist dann wieder komplett einmalig und fällt durch alle Raster. Klar wie ein Gebirgsbach mit leicht grünlichem Touch von Limette und Bergminze. Eine klirrende Säureader durchzieht den Wein, zupackend, fordernd, extrem fokussiert und sich vor Dramatik nur so überschlagend. Der Wein muss sich definitiv noch finden, aber wird dann in einigen Jahren auch ein größeres Publikum begeistern. Momentan ist das einfach polarisierender Stoff für Rieslingfreaks. Irgendwo zwischen 2021 und 2022 siedelt sich dann der gerade releaste 2023er an. Rauchig-reduktive Nase mit gerade nur angedeuteter Frucht, im Mund kommt dann eine irre Salzigkeit und der Biss des 22ers aber dazu die Präzision und absolute Geradlinigkeit des 21ers. Spannung ohne Ende. Dazu die Steinigkeit und Erhabenheit, die wir auch im ganz großen 2019er hatten. Unfassbar stark.
Was gibt es besseres, als seine Papillen mit einer so einmaligen Probe auf die folgenden Tage zu eichen? Und dabei dann auch noch den kommenden 2023er im direkten Vergleich mit neun weiteren Jahrgängen direkt mal einzuordnen. Einfach nur großartig! Wie erwartet, schlägt sich der jüngste im Bunde enorm gut gegen seine reiferen Kollegen und Ausfälle gibt es generell nicht. In Summe und über alle drei Weingüter gesehen, ist 2019 sicher der größte Jahrgang, 2023 ist ihm aber wirklich knapp auf den Fersen. Mir persönlich gefallen 2017 und 2021 ebenfalls extrem gut, obwohl sie teilweise noch nicht in perfekter Balance sind. Sie fordern aktuell vielleicht noch, aber begeistern mich mit ihrer zupackenden Dramatik. Trinken würde ich jetzt am liebsten die feinen 2016er oder auch die 2014er, die mich sehr überrascht haben. Vielen Dank an alle drei Familien und das gesamte Team für die perfekte Organisation – ich hoffe, ich darf in fünf Jahren wieder dabei sein.