Ihre Geschichte ist die Erfüllung des Traums eines jeden Weinfreaks. Alessandra Divella wuchs gemeinsam mit ihren beiden Schwestern im kleinen Ort Gussago, nördlich von Brescia und inmitten der Region Franciacorta auf. Wie viele Schüler und Schülerinnen in der Gegend verdiente sie sich etwas Taschengeld bei der Weinlese und hatte ansonsten bis ins Erwachsenenalter eigentlich nur wenig mit Wein zu tun. Ihre Eltern sind Akademiker und Wein fand bis vor kurzem in der Familie keine besondere Beachtung.
Mit 20 probierte Alessandra mit Freunden ein paar besondere Weine und begann sich dadurch mehr und mehr für Wein zu interessieren. Als sie schließlich ihren ersten Naturwein probierte, war es um sie geschehen. Ihre Wein-Begeisterung war nicht mehr zu stoppen. Um mehr darüber zu lernen, reiste sie durch Italien und Frankreich und sog jegliches Wissen und beeindruckende Geschmackserlebnisse auf wie ein Schwamm. Sie entdeckte dabei auch ihre persönlichen Vorbilder, unter anderem Jacques Selosse, den ultra-ikonischen und exklusiven Champagner-Winzer und Philosophen. Neben den Besuchen von Weingütern studierte Alessandra auf ihren Reisen auch ein paar Önologie-Bücher, um mehr über das Weinmachen zu lernen. Ein Weinguts-Praktikum oder Önologie Studium im klassischen Sinne hat sie aber nie absolviert. Letztendlich sammelte die smarte junge Frau ihre wichtigsten Erfahrungen hauptsächlich durch Experimente, die sie bereits 2012 im Alter von 22 Jahren startete.
Franciacorta ist in zwei Hauptgebiete unterteilt. Es gibt sowohl flache Lagen, in denen das Gros – ungefähr 90 Prozent – aller Reben der Region steht, als auch Weinberge in Hügellagen aus der Jurazeit, auf Fels und kalkhaltigen Tonböden, die vor Jahrtausenden vom Urmeer bedeckt waren. Genau dieses komplexe Terroir faszinierte Alessandra am meisten, also suchte sie im Ort Gussago nach Reben, die sie pachten konnte. Wenig später hatte sie Erfolg und fand eine 0,3 Hektar große Parzelle, mit der sie begann, ihre Vision zu verwirklichen und zu experimentieren. Schon heute ist Alessandra DIE Naturwein-Pionierin der Region, die aufzeigt, was überhaupt möglich ist und die bisherigen Standards ordentlich umkrempelt.
2014 konnte sie von einem älteren Nachbarn weitere zwei Hektar für 30 Jahre dazu leasen, eine 1,5 Hektar große und eine 0,5 Hektar große Parzelle in verschiedenen Teilen von Gussago. Alessandras erster Jahrgang, den sie verkaufte, war dadurch 2014. Damals brachte sie 5.000 Flaschen ihres Flagship-Weins, des Blanc de Blancs, auf den Markt. 2018 konnte sie sogar weitere 2,5 Hektar dazu kaufen, die jedoch neu bepflanzt werden mussten. Ihr Fokus liegt auf Chardonnay und etwas Pinot Noir. Klassische Champagner (und Franciacorta!) Rebsorten also. 2017 entdeckte die junge Visionärin ein altes, heruntergekommenes Bauernhaus aus dem 18. Jahrhundert ebenfalls in Gussago, das sie renovierte und zum Weingut umbaute.
Alle ihre Parzellen liegen auf 400 bis 800 Höhenmetern in perfekter Südost- und Südwestausrichtung, und Alessandra legt besonders Wert darauf, die verschiedenen Expressionen der besten Parzellen des Ortes Gussago einzufangen. Die kargen Weinbergslagen ergeben zwar nur wenig Ertrag, bringen dafür aber Weine von elektrisierender Mineralik, Intensität und krasser Frische hervor. Beim ersten Probieren ihrer Weine ist klar: das ist absoluter Freak-Stoff und nichts für Softies! Die spannungsgeladenen Weine elektrisieren regelrecht. Ihr intensiver Geschmack, ihre Tiefe und die nur schwer in Worte zu fassende Energie ihrer Weine ist absolut grandios. Sowas gibt es kein zweites Mal in Franciacorta. Das sind enorm vielversprechende Weine, die mit Flaschenreife sogar intensiver werden. Die Perlage ist von traumhafter Feinheit, und die frische Säure prickelt im Mund.
Ihr Blanc de Blancs wird mit einer großen pneumatischen Presse langsam abgepresst, alle anderen Cuvées in einer kleinen, alten Holzpresse, mit der der Vorgang besonders behutsam vonstatten geht. Die Gärung findet in neutralen Holzfässern in Dritt- und Viertbelegung statt. Anschließend wird der Wein dort neun Monate lang, ohne Auffüllen ausgebaut. Wie im Jura bildet sich in manchen ihrer Fässer eine Hefeschicht an der Weinoberfläche, die nur eine kontrollierte Oxidation zulässt. Nach der traditionellen Flaschengärung verbringen ihre Weine mindestens 24 Monate, manche sogar 60 Monate auf der Hefe bevor sie degorgiert werden. Alle Weine werden unfiltriert ohne Dosage und ohne Schwefel abgefüllt.
Alessandras Lernkurve bezieht sich nicht nur auf Wein, sondern auch auf ihre persönliche Entwicklung. Eigentlich kontrolliert sie gerne. Aber als überzeugte Naturwein-Winzerin musste sie lernen, dem Wein – und der Natur! – ihren Freiraum zu lassen. Zusammen mit einem angestellten Kollegen kümmert sie sich von A bis Z um alles und während der Lese packen auch ihre Neffen mit an. In der wenigen Freizeit, die sie hat, schreibt sie Gedichte und Romane.
In einem guten Jahr macht Alessandra maximal 9.000 Flaschen und auch in Zukunft, wenn ihre neu bepflanzte Lage produktionsreif wird, werden es nicht mehr als 15.000 Flaschen werden. Alessandra ist von Null auf Hundertfünfzig durchgestartet und hat das Unglaubliche geschafft. Wenn ich bedenke, dass das erst der Anfang ihres phänomenalen Weinguts ist, bin ich schon höchst gespannt, die Entwicklung dieses jungen Winzer-Genies zu verfolgen und zu begleiten. Blind verkostet würde man ihre Weine tatsächlich in die Champagne stecken, und ich scheue mich nicht zu sagen, dass Alessandra den Champagnern von Jacques Selosse auf den Fersen ist. Diesen Stoff sollte jeder Liebhaber von krassen Schaumweinen kennenlernen!