Klimawandel? Ab in die Höhe! Gut für die, die schon oben sind. Ein Einblick in die faszinierende, urtraditionelle Welt des Weinbaus am Fuße der französischen Alpen.
Zurück zur Ursprünglichkeit – so lautet heute das Motto vieler Spitzenbetriebe überall auf der Welt. Was ist mit jenen, die die Ursprünglichkeit nie aufgegeben hatten? Es gibt nur sehr, sehr wenige Gebiete, die das über die letzten 100 Jahre von sich behaupten können. Das französische Jura ist eine davon. Wenn nicht sogar DAS Sinnbild für eine urwüchsige, urtraditionelle Weinkultur, die sich nie verbogen hat. Sie ist keinem äußeren Trend je wirklich gefolgt, schien sich damals wie heute um Märkte und Konsumenten nur wenige Gedanken zu machen. Plötzlich wird die Region genau dafür gefeiert. Auf einmal kommt von allen Seiten internationale Anerkennung und (in moderatem Maße) Aufmerksamkeit. Da kann sich der jurassische Weinbauer bloß wundern. Denn hier an den Ausläufern der Alpen ist noch vieles wie es immer war – und die Welt spielt verrückt.
Das Jura kann sich die Selbstzufriedenheit heute durchaus leisten. Die Rebfläche beträgt seit der Reblaus-Krise und den beiden Weltkriegen mit rund 2000 Hektar nur noch ein Zehntel ihrer einstigen Ausdehnung. Zum Vergleich: Der kleine Rheingau hat rund 3100 Hektar. Es ist im Jura keine Seltenheit, dass Winzer mit Viehzüchtern und Milchbauern um Landflächen streiten müssen. Dabei verfügt die Region über einen für den Weinbau unschätzbaren Bodenschatz: Tonmergel und Jurakalk. Das ist nicht die einzige Gemeinsamkeit mit den berühmten Nachbarn aus der Bourgogne. Wie immer liegt der Schlüssel zum Verständnis dieses sehr speziellen Weinbaugebietes in einer Mischung aus Historie und Terroir. Obwohl es so Enklaven-artig abgeschirmt und stoisch erscheint, hat das Jura während seiner bewegten Geschichte doch eine Vielzahl äußerer Einwirkungen erlebt. Es gehörte zeitweilig zum freien Herzogtum Burgund, danach zu den spanischen Niederlanden, und dann erneut zur Grande Nation. In den Altstadtkernen der kleinen Örtchen rund um das Weinzentrum Arbois findet man noch immer kulturell, kulinarisch und architektonisch sowohl burgundische als auch spanische Einflüsse. Gerade die spanische Periode wirft ein interessantes Licht auf die im Jura so sehr ausgeprägte oxidative Weinbereitung, dessen Reminiszenzen an die Sherry-Kultur Andalusiens nicht von der Hand zu weisen sind. Und es war in den Weinbergen um Arbois, wo Frankreichs National-Chemiker Louis Pasteur seine Forschungen zur alkoholischen Fermentation betrieben hat, bevor er sich im Wettstreit mit dem deutschen Landarzt Robert Koch den Viren widmete.
Das Jura liegt im äußersten Osten Frankreichs. Direkt gegenüber befindet sich die burgundische Cote d’Or, weiter südlich das Rhône-Tal und die Ebene der Bresse (mit den berühmten Hühnchen). Im Rücken liegt die jurassische Gebirgskette entlang der Schweizer Grenze. Auf der schweizerischen Seite des Jura gibt es nur wenig Weinbau. In den mythischen Wäldern der Grenzregion regiert die grüne Fee, der Absinth. Zum traditionellen Fondue aus Greyerzer und Vacherin wird auf Schweizer Seite oft das mit Kräutern aromatisierte Destillat gereicht. Auf der französischen Seite kommt ins Fondue natürlich nur Comté, der im beschaulichen Poligny seine Hochburg hat. In dessen Umland gibt es unzählige Käse-Produzenten und ebenso viele Kuhweiden wie Weinberge.
Burgund 2.0? Mitnichten! Der Weinbau beginnt im Jura in hügeligen Landschaften auf 250 bis 450 Metern Höhe, die wie kleine Vorstufen zum dahinter aufragenden Juramassiv wirken. Verglichen mit dem Weinbau in Teilen Spaniens oder der Schweiz also eigentlich nicht wirklich so hoch gelegen. Im Schnitt jedoch definitiv höher als das Burgund. Genau wie in der Bourgogne finden wir im Jura ein stark kontinentales Klima. Das heißt warme, eher trockene Sommer und sehr kalte, durchaus lange Winter. Wobei sowohl Sommer als auch Winter hier etwas kühler sind als an der Côte d’Or. Spätfröste sind ein beständiges Problem. Um dem etwas entgegen zu wirken, werden die Stöcke hier ab und zu auch etwas höher über dem frierenden Boden erzogen als es im Burgund die Regel ist. Zudem regnet es im Jura mehr, und zwar bedeutend. Umso erstaunlicher, dass das Jura auch eine der Hochburgen des ökologischen Weinbaus ist. Im letzten Jahrhundert war man hier stets an der Grenze zum möglichen und wirtschaftlich sinnvollen Weinanbau. Heute sind etwas mehr Regen und Kühle paradoxerweise durchaus willkommene Attribute. Es ist also, auch im Hinblick auf die Bodenpreisentwicklung in der Bourgogne, nicht verwunderlich, dass sich immer mehr Burgunder-Winzer für das Jura interessieren. Denn das Gute liegt so nah. Bodentechnisch sitzen beide Regionen auf dem gleichen Grundgestein. Einem Kalkbecken, das vom Flüsschen Saône durchzogen wird, welches die beiden Landstriche von einander trennt. Die jurassische Seite ist folglich überwiegend südwestlich exponiert im Gegensatz zum eher südöstlich ausgelegten Burgund. Die Winzer der Bourgogne betonen gerne, der Chardonnay habe die sanfte Morgensonne lieber als die intensive Abendsonne. Doch im Jura brauchte er Letztere meist, um überhaupt voll auszureifen.
Eine endlose Bodenkomplexität. Durch tektonische Bewegungen des Juramassivs, das von den langsam vorrückenden Alpen in Richtung Burgund geschoben wurde, finden wir hier viel blaugrauen Tonmergel (Lias) und dunkleren Tonmergel (Trias), die sich am Gebirgsfuß an die Oberfläche aufgestaut haben. Dadurch entstand auch die charakteristische, verschachtelte Hügellandschaft des Jura, die bei weitem nicht so homogen ist wie die Hänge der Côte d’Or. Es gibt ähnlich viel Lehm und Ton in der Bourgogne. Dort liegen diese jedoch deutlich seltener in einer für die Rebwurzeln erreichbaren Schicht, sondern meist weit darunter. Im Burgund dominiert der oben liegende, reinere Kalksteinfels. Lehm und Ton ziehen nur stellenweise feine, aber ebenso maßgeblich bedeutende Spuren durch die Terroirs der Côte d’Or. Im Jura hingegen schoben sich die vielfältigen Lehm- und Tonschichten sehr viel massiver an die weinbaulich bedeutende Oberfläche. Wir haben sozusagen eine Chiralität zwischen der Bourgogne und dem Jura. Genau wie unsere Hände sind sie sich gegenüberliegend und strukturell beinahe gleich, doch mit ganz entscheidenden Unterschieden und niemals spiegelbar.
Tonmergel jeglicher Art sind die Taktgeber der jurassischen Reb-Orchester. Das kann für füllige, kraftvolle Weine mit viel Tiefgang und Intensität sorgen. Wo die Böden der Cote d’Or eher stringent-feine, Mozart-artige Weine fördern, da begünstigen die jurassischen Mergel eher aufbrausende Stürmer und Dränger à la Beethoven. Etwas lauter und ungestümer, eher burschikos als bourgeois im Herzen. Aber zutiefst liebenswürdig und bei aller Intensität auch oft erfrischend leichtfüssig. Über diese Wildheit, Bäuerlichkeit und Rohheit der Weine des Jura rümpfte der feine Weinadel Frankreichs lange die Nase. Heute wird die Region genau dafür stürmisch gefeiert. Zeiten ändern sich.
Trotz wärmerem Klima sind die Reifebedingungen hier in manchen Lagen und Jahren noch immer marginal. Die Ernte zieht sich manchmal bis in den Oktober, gar den November hinein. Wie es früher auch etwa an Mosel und Rhein ganz üblich war. Aber auch im Jura verschiebt sich die Lese, vor allem klimatisch bedingt und teilweise auch stilistisch induziert, immer weiter nach vorn. Früher galt im Jura, wie an der Mosel und der Loire: Geerntet wird, wenn die Trauben tief goldgelb sind. Das war meist erst der Fall, wenn die ersten Frostnächte bereits die Blätter von den Reben fallen ließen. Da kann sich ein Millennial nur am Kopf kratzen. Das klingt wie aus dem Mittelalter, dabei ist das gerade einmal eine Generation her. Zeiten ändern sich.
Die Speerspitzen der Bourgogne, Chardonnay und Pinot Noir, sind selbstverständlich auch im Jura weit verbreitet.
Rebsorten-technisch ist das Jura sehr überschaubar aufgestellt – mit zwei alten Bekannte und einigen grandiosen Underdogs. Vor der Reblaus-Krise gab es auf den über 20.000 Hektaren des Jura sicher 40 bis 50 verschiedene Rebsorten. Heute liegt der Fokus gerade einmal auf einer Handvoll. Offiziell zugelassen sind in den Statuten der Appellationen nur noch zwei weiße und drei rote Rebsorten, wenngleich es natürlich schon noch ein paar mehr gibt. Die Speerspitzen der Bourgogne, Chardonnay und Pinot Noir, sind selbstverständlich auch im Jura weit verbreitet und heute (leider) immer mehr auf dem Vormarsch. Der Pinot Noir ist hier schon seit dem 16. Jahrhundert ansäßig. Und nicht nur das, denn Pinot Noir stammt sehr wahrscheinlich sogar von der Leitrebe des Jura, dem weißen Savagnin, ab. Beide haben ziemlich sicher eine direkte, mindestens aber eine extrem nahe Verwandtschaft zur europäischen Wildrebe Vitis sylvestris. Unbestritten ist, dass beide zu den ältesten Kultur-Rebsorten der Welt zählen. Und auch der Chardonnay stammt aus dem selben Genpool. Er ist sogar noch länger im Jura heimisch als der Pinot Noir, schätzungsweise seit dem 14. Jahrhundert. Dass Chardonnay eine Traube ist, die den Boden sehr gut ausdrücken kann, beweisen die Weine der Côte d’Or auf eindrückliche Weise, wo er die hauchfeinen Unterschiede der Terroirs perfekt darstellen kann. Noch viel spannender wird es allerdings im Jura. Denn der Chardonnay wird hier auf sämtlichen Spielarten der Kalk- und Mergelböden gepflanzt und wird dadurch zum Sprachrohr dieser sagenhaften Komplexität des Bodenmosaiks der Region.
Wer sich auf die Einhorn-Jagd begeben möchte sucht am besten in den tiefsten Kellern der Pariser Natural Wine Bars.
Die eigentlichen Stars des Jura sind aber die grandiosen autochthonen Rebsorten: Savagnin, Trousseau und Poulsard, der nur in der Region um Pupillin auch Ploussard heißt. Savagnin wird je nach Region auch gerne Naturé genannt. Das Jura ist voll von solchen Eigenarten und Urtümlichkeiten. Poulsard ist eine dünnschalige Traube, die dementsprechend einen feinen, hellfarbigen, duftigen und leichtfüssigen Wein ergibt. Häufig mit Aromen von Blutorange und Hagebutte. Absolut traumhaft, wenn man feingliedrige Weine mag. Aber eben dennoch mit einer distinktiven Würze und rauchig-aromatischen Eigenart ausgestattet wie sie nur aus dem Jura stammen kann. Poulsard liebt den blaugrauen Mergel der Lias-Böden. Genauer gesagt wächst er sogar kaum auf Böden, die nicht ordentlich Lehm oder Ton enthalten. Der filigrane Poulsard braucht diesen satten Schub von unten, braucht die Power aus dem Boden. Doch keine Regel ohne Ausnahme. Denn etwa der Poulsard von Kenjiro Kagami, einem Japanisch-stämmigen Jurawinzer, ist regelmäßig einer der besten Rotweine der gesamten Region und er wächst auf sehr kalksteinreichem Boden. Die Gewächse von Kagami gehören allerdings zu den seltensten Weinen der Welt. Wer sich auf die Einhorn-Jagd begeben möchte sucht am besten in den tiefsten Kellern der Pariser Natural Wine Bars. Trotz seiner zarten Struktur, die den Poulsard oft eher Rosé-artig erscheinen lässt, kann er durchaus über eine gewisse Alterungsfähigkeit verfügen. Auf Grund perfekt symbiotischer Eigenschaften wird Poulsard häufig mit der anderen autochthonen Rebsorte, dem Trousseau, verschnitten. Dieser bringt das nötige Rückgrat und die Struktur mit, die dem Poulsard fehlt. Kommt dann noch die Grazie des Pinot Noir hinzu, haben wir die Vielfältigkeit des Juras zu einer einmalig harmonischen Expression vereint.
Guillaume d’Angerville aus Volnay war einer der ersten namhaften Burgunder, der sich mit der Domaine du Pélican eine bedeutende Dependance im Jura aufgebaut hat. Der Pelikan ist das Wappentier der Gemeinde Arbois, dem Sitz der Domaine und wurde somit zum Namensgeber. Die Weine werden vom selben talentierten Kellermeister vinifiziert wie Angervilles Volnays. Natürlich sind sie sowohl aromatisch, als auch was die Weinbereitung betrifft, ein bisschen burgundisch angehaucht. Dennoch tragen sie die DNA des Jura in sich, nur eben durch ein etwas anderes Mikroskop betrachtet. Das ist unheimlich spannend. Der Trois Cépages der Domaine Pélican ist ebenjene Vermählung der drei roten Leitreben. Floral, verspielt, feinsaftig, präzise über die Zunge tänzelnd wie ein Volnay, dabei aber viel leichter, fast schwerelos am Gaumen, so zart in der Struktur. Dazu kräuterwürzig, ätherisch, leicht pikant und mit einer distinktiven Spur von Walderdbeere und Unterholz. Ein Juraklassiker mit burgundischer Finesse.
Trousseau ist von einem anderen Kaliber als die ätherisch-feine Transluzenz des Poulsard. Unter dem Namen Bastardo wird er auch im Douro-Tal und im Norden Spaniens, sowie ein bisschen in Argentinien angebaut. Verbindungen nach Spanien werden immer wieder evident. Der Trousseau ist ein Wein mit Rückgrat und Intensität. Er kann eine ähnlich nachhaltige Struktur aufweisen wie ein Pinot Noir. Dabei ist er allerdings häufig etwas rustikaler, rauer und indiskreter als dieser. Die schwebende Anmut eines Pinot Noir erreicht er nur selten. Eine sagenhafte Alterungswürdigkeit ist dem Trousseau – wie fast allen Jura Weinen – fraglos auch gegeben. Genau wie der Pinot Noir fühlt sich der Trousseau auf Kalkböden am wohlsten. Hier erreicht er die beste phenolische Reife und kann durchaus grazile, elegante Anklänge erhalten.
Unrasiert, laut, rüpelhaft und Aufmerksamkeit fordernd – Savagnin ist nicht gerade von der elegantesten Natur – eben ein echter Rockstar. Kaum einer anderen Rebsorte merkt man ihre nahe Verwandtschaft zur Wildrebe so deutlich an. Obwohl geschickte Winzer es natürlich schaffen, ihm äußerst feine Weine zu entlocken. Seine Fanbase beschränkt sich auf eine kleine Gruppe eingefleischter Jurafans und ein paar Gourmets mit einem besonderen Geschmack. Solche, die nach dem Genuss eines Rebhuhns sagen können auf welchem Bein es zumeist geschlafen hat. Freaks eben. Der Savagnin ist der größte Schatz der Region. Mehr noch, er ist das wahre Aushängeschild, die Traube gewordene Quintessenz des Jura. Genetisch eng verwandt bis hin zu identisch mit dem, was heute in der Schweiz als Heida und in Österreich als Traminer angebaut wird. Doch nirgendwo sonst hat sich diese urwüchsige Rebe in solch genetischer Vielfalt und genialer Ursprünglichkeit erhalten wie im Jura.
Der Savagnin ergibt einen tiefen, mehrdimensionalen und salzigen Wein mit Aromen von Nüssen, süß-herben Gewürzen, eher grünlichen Früchten, Rauch und Mandeln. Savagnin drückt sich stets über seine vielschichtige Textur, seine schiere Präsenz, seine einnehmende Intensität und seine raue, salzgeprägte Mineralik aus. Frucht steht hier nie im Vordergrund, es ist ein zutiefst struktureller Wein. Ein Happening am Gaumen, das von überraschend bis überwältigend reichen kann. Es ist eine Rebsorte, die wie aus der Zeit gefallen wirkt, und mit wenig bis gar nichts auf der Welt verglichen werden kann. Am besten und typischsten gerät sie, wie Poulsard, auf den mergeligen Lias- und Trias-Böden der Region. Die Feinnervigkeit und Kühle des Kalksteins sind weniger seine Sache. Wuchtig, wild und meist auch etwas ungestüm, aber so charakterstark und eigenwillig, dass es keinen besseren Repräsentanten dieser einzigartig ursprünglichen Region gibt. Eine intrinsische, rasiermesserscharfe Säurestruktur und mundwässernde Salzigkeit machen dem pummeligen Savagnin dermaßen Dampf, dass er, trotz hoher Intensität und würziger Wucht, auf der Zunge oft leichter wirken kann als er eigentlich ist. Seine Alterungsfähigkeit wird besser in Jahrzehnten denn in Jahren angegeben. Ein echtes Unikat. Savagnin ist von reduktiv, über oxidativ bis hin zum überragenden Vin Jaune die perfekte Bühne für alle Aufführungen, die das Jura zu bieten hat.
Unter den zahllosen unterschätzten Gaumenfreuden, die das urwüchsige Jura für uns bereit hält, ist der Crémant vielleicht die am meisten unterschätzteste von allen – dabei hat er unter Kennern den Ruf, der Beste Frankreichs zu sein. Es gibt drei Regionen in denen Crémants in Champagner-Güte entstehen können: Alsace, Loire und Jura. Letzteres steht für mich mit gewissem Abstand noch vor der Loire an der Spitze dieser Kategorie. Weniger fruchtstark als die Crémants von der Loire und dem Elsass, weisen auch die Schaumweine des Juras eine sehr eigene Stilistik auf. Nussige, herb-würzige und rauchige Aromen zeichnen die Weine ja ohnehin aus. Im Crémant kommt dann noch mal der Turbolader des Hefecharakters hinzu. Die Frucht rangiert meist im Spektrum zwischen Apfel und Birne, allerdings im Crémant de Jura charakteristisch eher in der gebackenen oder angeschnittenen Variante. Ein aromatischer Einschlag, den auch viele moderne Winzerchampagner, der jungen Garde haben. Er ist maßgeblicher Ausdruck des Grundwein-Ausbaus mit mehr Luftkontakt, oft im Holz, und einem sehr zurückhaltenden Einsatz oder dem kompletten Weglassen von Schwefel. Was die Champagne gerade wieder für sich entdeckt hat, ist im Jura schon länger Stand der Dinge. Das reduktive Potenzial der Böden, die beinharte Säurestruktur teils mit pH-Werten wie an der Mosel und die generelle Gelassenheit gegenüber Oxidation lies die Jurawinzer schon immer Schaumweine mit einem sehr speziellen Charakter abfüllen. Natürlich sind die renommierten Top-Crémant Erzeuger wie Bouvet und Huet eher in Saumur oder Vouvray anzutreffen, wo der Crémant ähnlich viel Tiefe und Charakter erreicht. Aber für mich ist das was im Jura entsteht die Schaumwein-Spitze Frankreichs außerhalb der Champagne, weil ein guter jurassischer Crémant mehr Funk, Soul und Drive hat, als alles was sonst unter dieser Kategorie abgefüllt wird.
Wer in einem jurassischen Keller zur Weinprobe geladen wird, bekommt sehr wahrscheinlich zunächst einmal ein paar Rotweine ins Glas. Es ist eine der vielen Besonderheiten der Region, dass die Rotweine hier fast immer alkoholärmer und ganz generell leichter ausfallen als die Weißweine. Es gibt nur sehr wenige Regionen auf der Welt in denen das so ist. Im Burgund kann das selten mal der Fall sein, das nordspanische Galizien wäre ein weiteres Beispiel. Auch hier wieder ein Link zu den einstigen Zugehörigkeiten, die die Region bis heute prägen. Die floral-ätherischen und leichtfüssigen Rotweine des Jura rangieren nicht selten zwischen 11 % und 12 % vol. Alkohol, sogar in wärmeren Jahren. Wobei das natürlich auch etwas von der geographischen Lage innerhalb der Region abhängig ist. Im südlichen Teil um Rotalier, wo etwa Naturwein-Legende Jean-Francois Ganevat seinen Sitz hat, werden generell etwas höhere Alkoholgrade erreicht, als im etwas kühleren Norden um Arbois oder Pupillin, der Heimat des zarten Ploussard. Als Faustregel beim Probieren von Jura Weinen gilt: Rot vor Weiß vor Gelb.
Wobei Chardonnay und gerade der ethanolschwere Savagnin eher selten die 13 % vol. unterschreiten. Für die weißen Rebsorten gilt es zwischen den beiden ganz grundlegend verschiedenen Ansätzen der oxidativen oder reduktiven Weinbereitung zu unterscheiden. Die reduktive Variante versucht den Wein weitestgehend ohne größeren Sauerstoffkontakt auszubauen, um eine möglichst präzise Frucht und Klarheit der Aromatik zu erhalten. Da die Tonmergel-Böden des Jura den Weinen aber ein recht starkes Reduktionspotenzial schon vom Weinberg aus mitgeben, können diese teilweise sehr wilde, rauchige Reduktionsnoten aufweisen. Beim reduktiven Ausbau, der diesen Charakter noch nachdrücklich bestärkt, werden Tanks oder Fässer stets spundvoll gehalten, um keinesfalls eine Oberfläche für Oxidation zuzulassen. Der Einsatz von Schwefel kann hier ganz regulär erfolgen wie benötigt, wobei viele Winzer im Jura mit sehr wenig oder ganz ohne Schwefeldioxid arbeiten. Das reduktive Potenzial der Böden hilft dieser Praxis ungemein. Da es für einen reduktiven Ausbau zwingend erforderlich ist, dass die Fässer stets randvoll sind, wird dieser Stil im Jura als »ouillé«, also aufgefüllt, bezeichnet. Ein perfektes Beispiel für die reduktive Weinbereitung ist der in Arbois wachsende Chardonnay der Cave de la Reinne Jeanne.
Ein Chardonnay, der auf eindrückliche Weise das reduktive Potenzial der Böden und des Ausbaus aromatisch erlebbar macht. Gleichzeitig bekommt der Wein etwas neues Holz und ein bisschen Schalenkontakt, was wiederum oxidative Elemente einbringt. Diese aromatische Gratwanderung zwischen oxidativen, nussigen, curry-würzigen und krautigen, rauchigen reduktiven Elementen beherrscht keine andere Region der Welt so spielerisch und zugleich so gradlinig und unverblümt wie das Jura. Das Spannungsfeld aus Oxidation und Reduktion ist emblematisch für den Gôut du Jura. Der spürbaren Wucht, Reichhaltigkeit und Dichte aus den lehmigen Mergelböden steht die Spannung, das Elektrisierende und der Zug aus den kühlen Hochlagen-Weinbergen im Schatten der Alpen gegenüber. Der Wein steht sinnbildlich dafür, was die reduktiven ouillé Weine des Jura so genial macht: sie vereinen Gegensätze und sind deshalb mental fordernd. Easy drinking gibt es woanders, etwa beim Poulsard. Juras Weißweine fordern die Aufmerksamkeit des Genießers. Aber wenn man sich darauf einlässt, kann man unerreichte Größe, viel Sinnlichkeit und den Ausdruck ursprünglichsten Handwerks in diesen sehr speziellen Weinen finden. Für einen Bruchteil des Preises heutiger weißer Burgunder, das nur mal so am Rande. Für die non-ouillé, also oxidative, Variante schlagen wir erneut eine gedankliche Brücke nach Spanien.
Wie durch eine Art Quantenverschränkung scheint Andalusien noch heute mit Frankreichs tiefem Osten in Verbindung zu stehen. Denn nur hier sind die Winzer derart frei von jeder Furcht vor dem größten Feind der modernen Önologie: Sauerstoffkontakt in rauen Mengen. Weine, die in alten, nicht selten vermoderten Holzfässern liegen. Nie spundvoll befüllt. Ohne, dass ihnen danach noch groß Beachtung geschenkt würde. Kein schützendes Schwefeldioxid wird zu Hilfe geschickt, um das Schlimmste zu verhindern. Önologen weltweit stünde der Schweiß auf der Stirn. Nicht einmal die langsam immer weiter verdunstende Flüssigkeit, die Whisky-Erzeuger liebevoll Angel’s Share nennen, wird wieder aufgefüllt. Sauerstoff-resistente Florhefe breitet sich während und nach der Gärung auf der immer größer werdenden Oberfläche völlig ungehindert aus. Des Önologens Schweißperlen werden zum Wasserfall. Eine mehrere Zentimeter dicke, pelzige Florschicht wächst über den Wein, der darunter langsam vor sich hin »vermodert«?! Weit gefehlt. Die Hefeschicht adsorbiert Sauerstoff und schützt den darunter liegenden Wein somit vor Oxidation. Im Gegensatz zum warmen Andalusien ist es im spätherbstlichen Jura allerdings schon recht kalt in den Weinkellern. So bildet sich die Florhefe deutlich langsamer und der Wein kann durchaus eine Weile ungeschützt »an-oxidiert« werden. Unter einer geschlossenen Florschicht kann er aber physisch taufrisch bleiben und das über Jahre und Jahrzehnte. Wenngleich er aromatisch natürlich die mikrobiell aufgespannten Dimensionen durchreist und am Ende seiner Reise nur noch wenig mit dem gemein hat, was die meisten Menschen heute unter Weißwein verstehen. Auf seine abgestorbene Gärhefe gebettet und von der zarten Florhefe zugedeckt, verfügt der Wein über ein lauschiges Plätzchen, in dem er lange, lange Zeit mit Freuden überdauern kann. Nach exakt sechs Jahren und drei Monaten entsteht so das flüssige Gold des Jura, der Vin Jaune. Abgefüllt wird er stets in die Clavelin, eine 0,62 Liter fassende Spezialflasche, die ausschließlich diesem Wein vorbehalten ist. Die Winzer im Jura erzählen gerne, dass die Flasche ausgehend von einem vollen Liter die etwa 40 Prozent Verdunstungsverlust der sechsjährigen Reifung verdeutlicht. Tatsächlich sind aber 62 Zentiliter eine gängige Flaschengröße im früheren Spanien gewesen. Viel wahrscheinlicher ein weiteres Relikt der einstigen Zugehörigkeit.
Häufig werden non-ouillé Chardonnays und Savagnins in diesem Stil hergestellt, auch ohne über sechs Jahre unter Flor im Fass zu reifen. Diese Baby-Vin Jaunes greifen aromatisch schon in die selbe Kiste und eignen sich hervorragend dazu, die Papillen etwas schonender auf die Schocktherapie eines Vin Jaune vorzubereiten. Oxidativ ausgebaute Weine finden heute sicher bei der breiten Masse der Weintrinker keinen Zuspruch mehr. Doch wen sie einmal gepackt hat, den lässt diese Qualität nicht mehr los. Non-ouillé Savagnins oder Vins Jaunes erreichen eine mehrdimensionale Tiefe, eine kaleidoskopartige Komplexität und eine Haptik wie sie sonst höchstens trockener Sherry erreichen kann. Aber ich attestiere dem Savagnin intrinsisch die höhere Traubenqualität als dem Palomino des Sherry. Einen Vin Jaune zu genießen ist nicht einfach nur Weintrinken, es ist eine Reise für die Sinne.
Wer zunächst mit einem Oxidations-Sparring für den Gaumen beginnen möchte, dem sei der Savagnin aus uralten Reben von Clos des Grives empfohlen. Einer Domaine, die seit 1968 biologisch wirtschaftet – Willkommen im Jura. Wer sich gleich der vollen Dröhnung hingeben mag, dem sei einer der beiden Jungspunde hier ans Herz gelegt. Mit 10 bis 15 Jahren hat sich ein Vin Jaune nicht einmal warm gelaufen. Die meisten werden wahrscheinlich älter als wir. Das Schöne ist, dass man eine geöffnete Flasche Vin Jaune getrost über Tage, Wochen oder gar Monate hinweg genießen und verfolgen kann. Denn was sollte hier noch oxidieren?
Der Vin Jaune steht sinnbildlich für die Eigenart, die Unangepasstheit und die Zeitlosigkeit des Jura. Er ist einer der großen trockenen Weißweine der Welt, denn er hat alles was es braucht. Unendliche Lagerfähigkeit, Tiefe, Eleganz, Distinktion und Herkunftscharakter ohne Ende. Dass er dennoch selten neben den Montrachets und den weißen Hermitages auf den Tischen steht, liegt eben an seiner Eigenwilligkeit. Er ist das ewig verkannte Talent, der Superstar, der den Durchbruch nie geschafft hat. Dafür singt er einfach ein bisschen zu schräg. Sein Ausgangsmaterial, der Savagnin, fristet allerdings unverdient ein Schattendasein. Er hat als Traube inhärente Qualitäten, wie eine beinahe unzerstörbare Säurestruktur und kann auch in der nicht-oxidativen Variante eine atemberaubende Komplexität erreichen.
Die Gemeinde Château-Chalon ist der Grand Cru des Vin Jaune. Fast ausschließlich blaugraue Lias-Böden, die dem Savagnin die höchste Ausdruckskraft und Distinktion bei zugleich zitrischer Frische verleihen. Hier spielt nun Mozart Beethovens Fünfte, noch immer zutiefst dramatisch, energetisch und hochintensiv, aber irgendwie feiner. Der Vin Jaune ist eines der großen Kulturgüter Frankreichs und in seiner Charakterstärke nahezu unerreicht. Er ist ein zutiefst gastronomischer Wein, der ob seiner Intensität und Dichte eigentlich schon eine kleine Mahlzeit für sich ist. Es gibt nur wenige Kombinationen, die aromatisch so kohärent sind wie alter Vin Jaune und ein gereifter Comté direkt aus dem Keller eines Bauernhofs in Poligny. Auch beim Anreichern von Saucen gibt der Savagnin seine distinktiven Würznoten nur allzu gerne ab. Wer ganz mutig ist, kann sogar ein Hühnchen darin kochen. Das Poulet Bresse au Vin Jaune ist ein Klassiker der französischen Haute Cuisine und die jurassische Antwort auf den Hahn in Chambertin (heute ohnehin unbezahlbar). Hierzu ein ganzes Bresse-Hühnchen in acht Stücke zerteilen, salzen und pfeffern und in einem Schmortopf in Butter rundherum anbraten, dann herausnehmen. Im übrig gebliebenen Fett ein paar Schalotten und Morcheln anschwitzen. Die Hähnchenteile wieder hinzufügen und mit einem Esslöffel Mehl bestäuben. Dann mit 300 Milliliter (ca. eine halbe Flasche) Vin Jaune und 200 Milliliter Gemüsebrühe auffüllen. Ein paar Knoblauchzehen und ein Bouquet garni hinzugeben und bei schwacher Hitze 45 Minuten köcheln lassen. Einen guten viertel Liter Sahne hinzufügen und nochmals eine viertel Stunde köcheln. Dazu genießt man selbstverständlich den restlichen Vin Jaune. Danach noch ein Stückchen zimmerwarmer Comté 30 Monate und ein paar feine Salzkaramelle. Ganz großes Gaumenkino.
Das Jura war nie und wird nie Everybody’s Darling sein, dafür ist es einfach viel zu eigentümlich. Die Ursprünglichkeit der Region scheint beinahe Naturgesetz zu sein. Ob es an der geographischen Abgeschiedenheit oder an der traditionellen Laissez-faire-Lebensart seiner Einwohner liegt, ist dabei eigentlich völlig egal. Diese mythische Region in den Wäldern der Voralpen ist ein Ort der Lebensfreude, der Ruhe und der Gelassenheit und ein bedeutender Teil der kulinarischen Hochkultur Ostfrankreichs. Viele der Weine des Jura sind dafür die allerbesten Botschafter. Groß, und fern jeder Moderne.