Saint-Estèphe ist die nördlichste Gemeinde-Appellation des Médoc mit sechs kleinen Dörfchen und ein Archetyp des maskulinen Bordeaux-Weins.
Saint-Estèphe ist die nördlichste Gemeinde-Appellation des Médoc und ein Archetyp des maskulinen Bordeaux-Weins. Extrem langlebig, opulent, süß und dicht, mit viel schwarzer und roter Beerenfrucht. Kerniger, säurebetonter, herzhafter als etwa ein Pauillac fallen die Weine von den Rebflächen rund um die sechs kleinen Dörfchen der Appellation aus. Die Böden sind schwerer, neben dem für das Médoc typischen Kies finden sich große Anteile an Lehm, Ton und Eisen im Untergrund. Auch deshalb wird in Saint-Estèphe traditionell mit mehr Merlot in den Cuvées gearbeitet als in den anderen Top-Appellationen des Médoc. Die Robustheit der Cabernet Sauvignon wird dadurch abgemildert, die Weine werden runder und zugänglicher, auch wenn ihre Grundfestigkeit immer bewahrt bleibt. Ein Saint-Estèphe ist mit seinem typischen Charakter auch in Blindproben immer recht einfach zu enttarnen.
Saint-Estèphe – Understatement am linken Ufer
Fast schon provinziell geht es in Saint-Estèphe zu, wenn man die Appellation mit ihren südlichen Nachbarn vergleicht, in denen sich ein glanzvolles Herrenhaus an das nächste reiht. Saint-Estèphe, der alte Handelshafen des Médoc, war schon immer ländlicher geprägt als Pauillac und Co. Ein paar steile Hänge, rund 1.300 Hektar Reben, dazu bewaldete Parks und einige mehr oder minder unscheinbare Weingüter. Glanz und Gloria? Fehlanzeige. Schon 1855, bei der Klassifizierung der besten Weingüter des linken Bordeaux-Ufers, kamen gerade einmal fünf Weingüter in den Genuss des schillernden Cru-Classé-Status. Die meisten Châteaux in Saint-Estèphe sind heute als Cru Bourgeois klassifiziert.
Es sind diese etwas bescheideneren Strukturen, die dazu führen, dass sich Weinkritiker wie Hugh Johnson zu pikanten Aussagen hinreißen lassen. Er bezeichnete Saint-Estèphe als das ›Fußvolk des aristokratischen Médoc-Weinheers‹.
Die Crème de la Crème in Saint-Estèphe
Aber Saint-Estèphe wäre heute nicht weltweit bekannt und geschätzt, wenn seine Weine nicht grandios wären. Und genau das sind die kernigen Roten vom linken Gironde-Ufer letztlich. Ein wollüstiger, hedonistischer und herzhafter Ausdruck des Médoc, mit viel Würze und Tiefgang. Die besten dieser Art? Am Ende wohl tatsächlich die klassifizierten Güter.
Die starre Rangordnung von 1855 ist eben auch 170 Jahre später noch immer ein recht guter Gradmesser, auch wenn in der Spitze von Saint-Estèphe heute so sehr die Post abgeht, dass die besten Weingüter die Türe zur imaginären Premier-Cru-Suite schon weit aufgestoßen haben.
Primus ist in den vergangenen Jahren unzweifelhaft das 2ème Cru Cos d’Estournel von Besitzer Michel Reybier. Vielleicht ist das Gut mit seinem etwas bizarren architektonischen Stil, der mehr an ein chinesisches Pavillon als an ein französisches Herrenhaus erinnert, das einzig glanzvolle Haus im sonst recht provinziellen Saint-Estèphe. Mit Blick auf den südlichen Nachbarn von Cos wäre alles andere aber auch Understatement auf höchstem Niveau: Nur 900 Meter Fußweg und die kleine Talsenke des Chenal du Lazaret trennen Cos d’Estournel von Château Lafite Rothschild in Pauillac. Es liegt wohl auch an dieser Nähe, dass Cos zum Besten und Beständigsten gehört, was es in Saint-Estèphe gibt. Ein wahrer Super-Second, der heute zusammen mit Leóville-Las-Cases vielleicht am ehesten den Rang eines Premier Cru verdient hätte. Auf Cos muss man in den besten Jahren jedoch lange warten: Erst nach 15, 20 Jahren beginnt der Wein sich voll zu entfalten. Ein Merkmal, das Cos mit vielen Saint-Estèphe verbindet.
Die Topstars hinter Cos d’Estournel
Montrose ist der zweite Anwärter auf höhere Weihen in Saint-Estèphe, er ist ebenfalls als 2ème Cru klassifiziert. Das Château liegt nördlich von Cos d’Estournel unmittelbar an der Gironde, die Reben stehen auf einem tonigen Untergrund mit rötlichem, eisenhaltigem Kies. 2006 wurde das Gut vom Bauunternehmer Martin Bouygues gekauft, seitdem hat sich auch durch die Arbeit von Regisseur Hervé Berland der Stil des Weines verändert: weg von der ultimativen Festigkeit, hin zu mehr Feinheit und Finesse. Den Platz des direkten Verfolgers der beiden Super-Seconds hat sich in den letzten Jahren Calon-Ségur gesichert. Das 3ème Cru ist das nördlichste klassifizierte Château des Médoc, spätestens seit den 90er-Jahren geht es hier wieder steil bergauf, was sicherlich zum großen Teil auf das Konto des Trios geht, das hier federführend ist: Direktor Laurent Dufau, Weinmacher Vincent Millet und Star-Berater Éric Boissenot. Auch wenn man bei Calon-Ségur heute ebenfalls mehr auf Feinheit und frühere Zugänglichkeit setzt, ist der Wein dennoch ein Paradebeispiel für den langlebigen, kernigen Stil von Saint-Estèphe.
Shootingstars Phélan und Meyney
Unmittelbar hinter den klassifizierten Gütern verringern einige Top-Weingüter den Abstand zu den großen Namen gewaltig. Der Klassiker Phélan-Ségur, der seit 2018 in die Hände neuer Besitzer überging, ist zusammen mit Château Meyney (vielleicht DER Aufsteiger der vergangenen Jahrgänge in Saint-Estèphe) der heißeste Verfolger von Calon-Ségur. Regisseurin Véronique Dausse und Star-Önologe Michel Rolland haben Phélan zu einem unwiderstehlichen Rotwein gemacht:
Meyney ist da ein kleiner Gegenpart mit seinem recht hohen Anteil an Petit Verdot, der noch mal einen Kick dunkle Würze ins Spiel bringt. Beide Weingüter werden in den nächsten Jahren mit Sicherheit noch den Extra-Turbo zünden.
Es tut sich was in Saint-Estèphe! So rustikal die Landschaft sein mag, so wenig rustikal fallen heute die Weine der Appellation aus. Mehr von der roten Frucht getrieben, mit seidigsten Tanninen, was auch durch den fortschreitenden Klimawandel begünstigt wird. Dabei aber immer ihren maskulinen und frischen Charakter behaltend, von den kleinen Klassikern wie Le Boscq und Lilian Ladouys über die Shootingstars Phélan-Ségur und Meyney bis zu den Platzhirschen Calon, Montrose und Cos. Vive la solidité!